Wir klagen an

Zehn Morde, drei Bombenanschläge, viele Verletzte. Die Taten des
Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) sind bis heute nicht aufgeklärt. Das bundesweite Bündnis »NSU-Komplex auflösen« organisiert deshalb vom 17. bis 21. Mai 2017 im Schauspiel Köln ein öffentliches ­Tribunal und stellt Fragen: Wie konnte der NSU über zehn Jahre unbehelligt agieren? Wer hat ihn dabei unterstützt? Was wussten die Behörden über die ­Aktivitäten der Terrorgruppe? Und warum wurden die Opfer immer ­wieder zu Tätern erklärt? Diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, sollen ­endlich gehört werden. Zum Abschluss des Tribunals wird eine Anklageschrift verlesen, in der »Akteure des NSU-Komplex’ mitsamt ihrer ­institutionellen Einbettung« benannt werden. Vier Beteiligte des NSU-Tribunals geben hier ihre persönliche Anklage zu Protokoll

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 Der Schriftsteller Doğan Akhanlı kam 1991 als politischer Flücht­ling aus der Türkei nach Deutsch­land. In seinen Ro­ma­nen thematisert er den Umgang mit Gewalt und  Men­schen­rech­ten. Akhanlı ist Mitglied in der Schrift­steller­ver­einigung PEN. 2016 hielt er die »Möllner Rede im Exil« in Er­inne­rung an die Opfer des ras­sis­ti­schen Brand­­an­schlags von Mölln.

 

Ich klage an, weil ich nicht mehr sicher bin, ob Deutschland noch jenes sichere Land für Einwanderer ist, das es zu sein schien. Bis zu dem Zeitpunkt, als die rechtsextreme Terrorzelle NSU aufflog, war ich davon überzeugt, dass es in Deutschland keinen Platz mehr für Rassismus und Nationalismus gebe. Das Land hatte sich doch mit seiner Geschichte ernsthaft auseinandergesetzt. Ich glaubte, dass die grausamen Untaten einiger weniger Faschisten nur noch Überreste der kaum noch wirksamen Vernichtungsseele der NS-Vergangenheit waren. Die Aufarbeitung in Deutschland war für mich nicht nur das Engagement einer kleinen Gruppe, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Dieser Wandlungsprozess machte mir Hoffnung und ermöglichte es mir, mich mit diesen neuen Grundsätzen zu identifizieren. Nach der Enttarnung der NSU-Terrorzelle war es schlimm für mich, denn die von mir so geschätzte Erinnerungskultur Deutschlands schien plötzlich wie ausgelöscht. Es erschütterte mich zu erfahren, dass die Sicherheitsbehörden des Staates als Mitwirkende in diesem Komplex eine Rolle spielen. Die Vergangenheit will nicht vergehen. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte ist kein abgeschlossener, sondern ein fortlaufender Prozess.

 

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Ayşe Güleç arbeitet als Sozialpädagogin zu den Themen Migration und -kulturelle Bildung. Sie ist Mitbegründerin der Initiative »6. April«, die gemeinsam mit den Angehörigen des Kasseler NSU-Mordopfers Halit Yozgat Aufklärung einfordert. Ein von der Initiative mitbeauftragtes Gutachten zum Kasseler Mord wird auf dem Tribunal vorgestellt. 

 

Ich klage an! Ich klage die Beamten der Ermittlungs-behörden an, die die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat unter Druck gesetzt, beschuldigt und über Jahre hinweg kriminalisiert haben. Bis heute wirken sie daran mit, dass das Wissen der Angehörigen der Mordopfer sowie der Überlebenden der Bombenanschläge nicht wahrgenommen wird. Die Welt der Ermittler bestand aus Phantasmen. Sie haben etwa die Fotografien einer blonden Frau benutzt, um drei trauernden Witwen das erfundene Doppelleben ihrer ermordeten Ehemänner zu beweisen. Wie wanderten diese Fotografien von einem Beamten zum nächsten? Durch wessen Hände wurden diese Fotos weitergereicht, um damit den immergleichen Verdacht auszusprechen? Den rassistischen Ermittlungen folgten ebensolche Medienberichte. Ich klage an, denn der Schmerz ist groß und die Taten derer, die den NSU-Komplex ermöglicht haben, sind unvergesslich. 

 

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Tribunal-spots.net ist ein Kollektiv von Videokünstlern, Filmemachern und antirassistischen Aktivisten. Für das NSU-Tribunal haben sie über zwanzig Kurzfilme als Diskussionsbeiträge zur Aufarbeitung des NSU-Terrors produziert, die der Frage nachgehen: »Wie können wir das Feld des Sichtbaren so verändern, dass rassistische Struk-turen anklagbar und (post-)migrantische Realitäten und Perspektiven unübersehbar werden?«

 

Wir klagen an! Das Feld des Sichtbaren scheint abgesteckt: Medien berichten über die Verbrechen des NSU oft täterfixiert. Immer wieder wurden und werden diejenigen ausgeblendet, die Ziel der Morde und Anschläge des NSU waren und davon weiterhin betroffen sind. Stattdessen werden rassistische Stereotype fortgeschrieben, bei den Ermittlungsbehörden noch verstärkt durch Apathie und Ignoranz. Dieses Feld des Sichtbaren, in dem strukturelle und institutionelle Rassismen dem NSU-Terror als Komplizen dienen, klagen wir an. Wir wollen diese verengte und verkrustete Perspektive aufbrechen, sie in Frage stellen und verschieben, an ihr rütteln, sie hintergehen und sabotieren. Wir wollen damit eine dringend notwendige, breite gesellschaftliche Debatte anstoßen, die bisher fehlt. Wir sind eine Gesellschaft der Vielen und fordern ausgehend vom Wissen und den Erfahrungen der Betroffenen und gemeinsam mit ihnen die Auflösung der Bedingungen und Strukturen, die den NSU ermöglicht haben.

 

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Der Pädagoge Kutlu Yurtseven ist Mitbegründer der Initiative »Keupstraße ist überall« und des Tribunals »NSU-Komplex auflösen«. Mit der HipHop-Band Microphone Mafia widmet er sich den Themen Migration und Rassismus. Am Kölner Schauspiel ist er im Stück »Die Lücke« zu sehen, das den Nagelbombenanschlag in der Keupstraße thematisiert. 

 

Ich klage an! Jeden Tag versuche ich, Kinder und Jugendliche in der Schule davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, aufrichtig und respektvoll miteinander umzugehen, für sich und sein Umfeld Verantwortung zu übernehmen, Empathie zu zeigen und anderen Menschen zuzuhören. Der NSU-Komplex hat gezeigt, dass all das, was wir unseren Kindern mitzugeben versuchen, in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, sondern immer neu eingefordert werden muss. Den Angehörigen der Opfer des NSU wurden durch verhöhnende Medienberichte und rassistisches Behördenverhalten Verletzungen zuteil. Die Bewohner der Keupstraße wussten, dass sie von Nazis angegriffen wurden, nur wollte dies niemand zur Kenntnis nehmen. Die Terrorserie hätte so vielleicht früher aufgeklärt werden können. Aber auch später, beim NSU-Prozess in München, wurde keine Verantwortung übernommen. Die Forderungen und Anklagen der Betroffenen, der Familien der Opfer, wurden ignoriert. Ihnen wurde wieder kein Gehör geschenkt. Nun stehen wir in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen und ihnen zur Seite zu stehen. Das Tribunal ist ein Ort, an dem wir Kindern und Jugendlichen beweisen können, dass wir gemeinsam unsere Werte wie Respekt und Aufrichtigkeit einfordern und leben. Der erste Schritt dafür ist: Zuhören.