Milo Rau: Kinder erzählen das Leben von Marc Dutroux, Foto: Ted Oonk

Labor für Gesellschaftsveränderung

Die Impulse, wichtigstes Festival der Freien Szene, finden dieses Jahr unter dem Motto ­»Decide or Else« statt

Früher reiste man mit Hanfriegel in der Picknick-Tüte alle zwei Jahre auf einer lustigen, aber immerhin organisierten Busfahrt zwischen den NRW-Theatern hin und her. Noch früher musste man, wenn man die Impulse, das größte Theaterfestival der freien Szene, erleben wollte, die Reise allein erledigen und erlebte in Bochum, Köln, Mülheim und Düsseldorf ein wildes Potpourri aus heterogenen Szenearbeiten.

 

 

Schon damals konnte man -sicher sein, dass ein Team aus Scouts im ganzen Land ausgeschwärmt war, um die »besten« freien Produktionen zu sichten und einzuladen. Daher galten die Impulse seit ihrer Gründung durch Dietmar N. Schmidt im Jahr 1990 auch als Gegenentwurf zum Berliner Theatertreffen, jener elitären Schau der deutschsprachigen Stadtheater. Doch diese Grenzen sind aufgeweicht, nicht zuletzt durch den heutigen Impulse-Leiter Florian Malzacher. Nicht nur, dass in diesem Juni in Köln mit »Five Easy Pieces« (30.6., 1.7.) von Milo Rau ein Stück eingeladen ist, das im Mai auch beim Berliner Theatertreffen zu sehen war. Es zeigt, dass die Grenzen von Stadttheater und freier Szene bedeutungsloser werden, wenn man sich nur groß genug vernetzt. »Five Easy Pieces« ist -sicher der Höhepunkt des Festivals. Der Theaterabend über den belgischen Mädchenmörder Marc Du-troux, inszeniert mit Kindern zwischen acht und 14 Jahren wirkt nur auf den ersten Blick skandalös, in Wirklichkeit ist es eine tiefgreifen-de Auseinandersetzung über Missbrauch und Darstellbarkeit. Dramaturgisch sensationell gut gebaut und zweifellos eine der wichtigsten Theaterarbeiten des Jahrzehnts.  

 

 

Malzacher, der nach der diesjährigen Ausgabe die Leitung verlässt und an Haiko Pfost übergibt, hat die Struktur der Impulse von Grund auf verändert. Er hat das Konzept des »Besten« in Frage gestellt und es in ein gestaltetes Festival verwandelt, das stets der Frage nachgegangen ist, wie politisches Theater aussehen und eingreifen kann. Tatsächlich konnte man in den letzten drei Jahren spannende Versuchsanordnungen verfolgen, wie man mit Hilfe von Kunst die Welt verbessern könnte. Darunter fielen etwa die »Silent University« in Mülheim an der Ruhr, die geflüchteten Akademikern eine intellektuelle Plattform verschafft. Darunter fiel auch die streng inszenierte politische Debatte im Düsseldorfer Landtag »Kunst Macht Politik«, die die Parteien nach ihre Kulturvisionen befragte. Schließlich die von Künstlerin Lotte van den Berg organisierten tiefschürfende Diskussionen der Zuschauer zu brisanten Themen wie Geld. Mit Symposien, Installationen, Audio-Walks, Tanz, Lectures, Dokumentarfilmen war die formale Bandbreite des Festivals so groß wie nie. 

 

 

Zudem hat Malzacher das wichtigste Theaterfestival der Freien Szene dauerhaft gerettet, das vor vier Jahren vor dem Aus stand. Der wichtigste Förderer, die Kulturstiftung NRW, war ausgestiegen. Nun findet es mit einer komfortablen jährlichen Finanzierung von mindestens 650.000 Euro statt. Das Herumreisen zwischen den Städten ist dabei auf ein Minimum reduziert: Bochum ist als Teilnehmer ausgestiegen, Impulse werden von Düsseldorf, Köln und Mülheim ausgerichtet. Jede Stadt veranstaltet alle drei Jahre ein ganzes Festival, die jeweils anderen werden mit »Satellitenprojekten« bespielt. Im letzten Jahr war es etwa der schrill-bedrohliche Science-Fiction Film »Germany Year 2071«, rückwärts gedreht von der New Yorker Gruppe »Nature Theater of Oklahoma« in der Kölner Studiobühne und Innenstadt, inszeniert mit begeisterten Laien-Statisten. Er wird während des Festivals Premiere im WDR-Sendesaal feiern (21.6.). 

 

 

Aber gibt es nicht genug kuratierte Festivals auf der Welt? Ist es nicht ein unzulässiger Eingriff von oben — und ein schwerer Schlag für eine Szene, die ohnehin stets schwer mit ihrer Sichtbarkeit kämpft? Eingeladen wurden in den letzten Jahren große Namen, also Gruppen, die durch ihre internationale Vernetzung ohnehin Big Player sind und die Impulse nicht unbedingt nötig haben. Auch im diesjährigen Programm ist es so: Milo Rau etwa, der zwar in Köln lebt, aber soeben als Theaterleiter des NT Gent ausgerufen wurde, ist nur einer unter vielen Großkünstlern. Boris Nikitin (»Hamlet«, 22.6., 23.6.) etwa inszeniert sonst etwa bei der Ruhrtriennale, die Gruppe Monster Truck (»Sorry«, 28., 29.6.) ist wie viele Impulse-Dauergäste durch die Schule der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen gegangen und hat längst zu den Arrivierten aufgeschlossen, Gintersdorfer/Klaßen (»Freie Rede«, 30.6., 1.7.) und SheShePop (»Besessen«, 30.6., 1.7.) reisen mit ihren Arbeiten um die Welt. Zu kritisieren wäre, dass die »Impulse« sich kaum noch vom übrigen Festival-Einheitsbrei unterscheiden. 

 

 

Doch man darf nicht vergessen, wie gut es Florian Malzacher gelungen ist, das Festival in einen kreativen Think Tank, ein Labor für gesellschaftliche Veränderungen zu verwandeln. Es ist sein Verdienst, dass man jedes Jahr im Juni im und mit dem Theater konzentriert über Teilhabe, demokratisches Engagement und den Bewusstseinszustand der Welt nachdenken — und dabei auch noch viel Spaß haben kann. Nur bei der Wahl seines Nachfolgers muss man stutzen: Ist es nicht an der Zeit, diversere — und femininere — Kollektive an die Leitung zu lassen anstatt erneut einen einzelnen, weißen Mann? 

 

 

StadtRevue präsentiert

Impulse Theater Festival, 22.6.–1.7., verschiedene Spielorte Köln Alle Infos: festivalimpulse.de