Die Avantgarde unterm Dach

Wilhelm Riphahn hatte vor 90 Jahren in der Bickendorfer Rosenhofsiedlung für seine avant­gardistischen Künstlerfreunde Ateliers eingerichtet. Heute erinnert nichts mehr an diese Geschichte. Ein Rundgang durch die Siedlung

Ortstermin in Bickendorf. An einem Brunnen auf einem kleinen Platz und unter schönen, Schatten spendenden Bäumen gelegen treffen die Straßen Am Rosengarten und Grüner Brunnenweg aufeinander. Eine für Köln fast blendend pittoreske Szenerie. Es wirkt dörflich. Sauber, aufgeräumt, adrett, aber nicht provinziell verstockt. Denn genau an dieser Ecke stoßen Bickendorf I und Bickendorf II auf­einander. Bickendorf I ist die verwinkelte, heimelige Reihenhaussiedlung, die seit vielleicht zehn Jahren zu einem Sehn­suchtsort neobürgerlich gestimmter Kleinfamilien geworden ist. Hier ein Häuschen zu besitzen, in einem so homogenen Stadtraum — für viele ein Traum. Die Siedlung wurde 1913 von der städtischen Wohnungsgesellschaft GAG gebaut, nach Plänen des Architekten C. M. Grod. Der war auch für das in den 20er und 30er Jahren gebaute Bickendorf II zuständig, später stieß Wilhelm Riphahn als ausführender Architekt hinzu. Bickendorf II ist das urbane Gegen­stück zum Dorfplatz-Flair: Mietskasernen im Stil der Neuen Sachlichkeit bilden rechte Winkel. Bekannt ist das Ensemble auch als Rosenhof-Siedlung. Es macht ebenfalls einen geschlossenen, gut erhaltenen Eindruck, wirkt wie aus einem Guss und strahlt bei aller formalen Strenge auch Wärme aus. Bickendorf ist im zerfledderten und vernarbten Köln ein Geheimtipp der Urbanität.

 

Zum Geheimtipp gehört auch die Geheimgeschichte. Und die weiß Thomas Piepenstock zu erzählen. Piepenstock wartet am Brunnen, gemeinsam brechen wir zu einem Rundgang durch sein Veedel auf. Der 55-Jährige lebt hier, mit Unterbrechungen, seit 1965. In Bickendorf II brachte Wilhelm Riphahn ab 1927 vier Künstlerateliers unter, von denen heute niemand mehr etwas weiß. Piepenstock hat ihre Geschichte recherchiert.

 

Wir stehen vor dem Schlehdornweg 2. Von 1927 bis 1934 arbeiteten hier Anton Räderscheidt und seine damalige Frau Marta Hegemann. Räderscheidt gehört zu den Künstlern der Kölner Progressiven, als Maler ein Protagonist der Neuen Sachlichkeit, berühmt für seinen »Mann mit steifem Hut«. Politisch war Räderscheidt ein Anarchist, befreundet mit dem legendären Phantom-Autoren B. Traven alias Ret Marut (»Das Totenschiff«), mit dem er einst die Pässe tauschte, damit Traven aus Deutschland abtauchen konnte. Räderscheidt setzte sich 1934 mit seiner jüdischen Freundin nach Frankreich ab. Ab 1939 arbeitete — und lebte — hier Friedrich Tschaschnig, ein Schüler von Paul Klee, der auch als Farben­forscher für den Lackhersteller Bollig & Kamper in der benachbarten Vitalisstraße arbeitete. 2002, kurz vor seinem 100. Geburtstag, musste Tschaschnig das Atelier verlassen.

 

»Die Ateliers hatten die Dachfenster zur Nordseite, damit das Licht gleichmäßig einfiel, kein Schattenwurf sollte die Künstler stören. Sie bevorzugen ja diffuses Licht«, führt Piepenstock aus. »Die Ateliers hatten eine kleine Dunkelkammer, eine Toilette und in den Nischen der Schräge gab es Schrank- und Ablegemöglichkeiten. Ganz wichtig war das Fenster selber, nach meinen Schätzungen war es sehr groß, die Maße werden wohl 2,50 mal 3,50 Meter gewesen sein. Man konnte die Scheiben mit einem raffinierten Flaschenzugsystem öffnen.«

 

Wegen der Erneuerungen von Fassaden und Dachstühlen, die in der Rosenhof-Siedlung in den vergangenen Jahren im großen Stil vorgenommen wurden, wurden die Ateliers aufgelöst — aus Gründen des Brandschutzes: »Wenn die Feuerwehr die Leute nicht mit der Drehleiter herausholen kann, und wenn es keinen zweiten Fluchtweg gibt, dürfen die Räume nicht belegt oder bewohnt sein«, sagt Piepenstock. Ist dabei viel verloren gegangen? »Eher nicht. Sie müssen sich die Räume schlicht zurechtgemacht vorstellen. Rechts und links vom Atelier waren die Trockenspeicher, die Decke lief spitz zu, die Stehhöhe war noch ziemlich gut. Die Schrägen einberechnet würde ich sagen, dass ein Atelier etwa dreißig Quadratmeter groß war.« Friedrich Tschaschnig nutzte übrigens sein Atelier auch als Wohnung.

 

Wenn man vom Schlehdornweg Richtung Rosenhof blickt, schaut man gewissermaßen durch den Wach­hol­der­weg. In der Hausnummer 4 war ein weiteres Atelier untergebracht. Hier arbeitete Heinrich Maria Davring­hausen, auch ein Kölner Progressiver, auch ein Linker. Direkt nach der Machtergreifung der Nazis flüchtete er mit seiner Familie nach Spanien. Davring­hausen starb 1970 in Nizza. Zusammen mit Räderscheidt, Franz W. Seiwert und Heinrich Hoerle, den beiden bekanntesten Protagonisten der rhei­nischen Szene, gründete er die avantgardistische »Gruppe 32«. Auf Davringhausen folgten der Expressionist Fritz Schaefler, der unter den Nazis Malverbot erhielt, und sein Sohn Hansotto und ab 1965 Artur Piepenstock, Vater von Thomas Piepenstock. Artur, der Maler und Werbe­grafiker war, nutzte das Atelier bis 2011.

 

Wir bewegen uns vom Rosenhof weg. Dort, wo der Schleh­dornweg auf den Akazienweg trifft, ist ein Durchgang, wir stellen uns unter. »Jetzt stehen wir im ehemaligen Atelier von Lambert Schmithausen«, sagt Piepenstock. »Er war ein Bildhauer und mit Fritz Schaefler aus dem Wachholderweg befreundet. Schmithausen hat zum Beispiel das Eingangsportal der GAG-Zentrale am Heumarkt gestaltet. Aber sehen Sie hier irgendwo eine Gedenkplakette, die an ihn erinnert?« Es gibt sie nicht, auch die an­deren Häuser, die Ateliers beherbergten, tragen keine. Schmithausen nutzte das Atelier bis 1934, er blieb in Deutschland. 1933 zeigte er in einer Gruppen­ausstellung im Kölnischen Kunstverein, die unter dem Titel »Fort mit dem nationalen Kitsch« nicht mehr genehme Arbeiten deutscher Kunst ausstellte, ein Hitler-Porträt — als ein gelungenes Gegenbeispiel neuer deutscher Kunst.

 

Die Rekonstruktion der Geschichte der Ateliers war nach dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs im März 2009 »wie eine Schnitzeljagd«, sagt Thomas Piepenstock. Er recherchierte im NS-Dokumentationszentrum und in der Kunst- und Museums­bibliothek, viele Fragen sind noch offen. Etwa die, wieso die Künstler ausgerechnet in Bickendorf gelandet waren. »Vielleicht war die Einrichtung der Ateliers eine Gegenleistung der Architekten für die Künstlerszene«, meint Piepenstock. »Viele Künstler, etwa Seiwert und Hoerle, haben ja die Farbgestaltung von Wohnsiedlungen übernommen.« Haben die Künstler denn auch in Bickendorf gelebt? »Ja, die Ateliers konnte man nur zusammen mit einer Wohnung mieten.«
Die Venloer Straße 710 ist unsere letzte Station. Unterm Dach hat von 1928 bis 1934 Franz Joseph Esser gearbeitet, auch er war assoziiert mit den Kölner Progressiven. Später wurde Essers Kunst von den Nazis als entartet gebrandmarkt. Seine Arbeiten sind in der Grafischen Sammlung des Museum Ludwig vertreten. »Wer nach Esser dort einzog, weiß ich nicht, das Atelier wurde als Wohnung genutzt.« Piepenstock, der die Spurensuche mit dem jüngst verstorbenen Christoph Schaefler, Enkel von Fritz Schaefler, begonnen hatte, möchte sein Material der Öffentlichkeit übergeben.

 

Die Geschichte der Ateliers wirft ein Licht auf den ­Kölner Aufbruch in die Moderne und auch auf den jähen Abbruch dieser Geschichte durch den National­sozia­lis­mus, der auch in Bickendorf vehement bejubelt wurde.

 

Als nächsten Schritt wünscht sich Piepenstock Gedenk­plaketten. Bei der GAG hatte er seit 2010 mehrfach vorgesprochen — bislang ohne befriedigende Antwort.