Umkreisen der Verse

Über keine literarische Tätigkeit sind so viele Klischees im Umlauf wie über das Schreiben von Lyrik. Erst neulich belebte jemand in der Zeit das wenig originelle Bild des »armen Poeten« und sprach vom »Privileg, dass sich Lyrik nicht pekunianisieren« ließe, so als könnten Lyriker ihre Miete mit Zeilen anstatt mit Zeilengeld bezahlen. Ein anderes dieser Klischees: Die Aufgabe von Lyrik sei es, dem »spontanen Überwallen mächtiger Gefühle« (William Wordsworth) eine Form zu geben: Wer seine Worte nicht fühlt, der soll sie auch nicht aufschreiben.

 

Gut, dass sich das Lyrikfestival »Satelliten« daran nicht gebunden fühlt. Stattdessen präsentiert es Lyrik, die mit Formen spielt und nicht in der schlecht belüfteten Hinterhauswohnung, teils entstanden im öffentlich-finanzierten Austausch zwischen Dozenten und Studierenden. All das findet nicht in Privatsalons statt, sondern hat sein Zentrum im Konzertsaal des Alten Pfandhauses, der an eine römische Kampfbahn erinnert und um den herum die einzelnen Satelliten von der linken Südstadtkneipe bis zum Gemeinschaftsgarten kreisen.

 

Womit noch nichts über das Material gesagt ist, das bei »Satelliten« vorgestellt wird. Es fällt in eine Zone, die seit den Klanggedichten der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts immer neu vermessen wird. Eine Zone, in der das Wort nicht von seinem Klang getrennt wird, welcher wiederum gleichberechtigt neben anderen Geräuschen steht. Swantje Lichtenstein aus Düsseldorf etwa löst im Duett mit dem Theremin- und Synthesizerspieler Jono Podmore Textfetzen in akustische und elektronische Sounds auf, die zu einer düsteren Collage werden. Ulrike Almut Sandig dagegen hat gemeinsam mit Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz eigene Lieder entwickelt, bei denen die klassischen trainierten Musiker und Musikerinnen auf die Texte der musikalisch dilettierenden Sandig treffen. Der Dichter Ron Winkler wiederum trifft mit seinen verdichteten Gedichte auf einen Musik gewordenen Migrationshintergrund. Elektro Hafiz parodiert die türkische Psychedelic der 1970er bis ins Absurde und sieht dazu aus, wie sich der Durchschnittsdeutsche einen Gastarbeiter aus Türkiye eben vorstellt. So findet das Klischee zum Schluss doch noch auf dieses Festival.