»Kino kann vampiristisch sein«

Ein Gespräch mit Regisseur Sebastián Lelio (»Gloria«) über seinen Film »Eine fantastische Frau«, seine herausragenden Darstellerinnen und den Boom des chilenischen Kinos

Ihr Film handelt von der transsexuellen Marina, die sich nach dem plötzlichen Tod ihres älteren Geliebten gegen dessen Familie und gesellschaftliche Konventionen behaupten muss. Wie kamen Sie auf diese Geschichte?

 

Mich hat die Frage interessiert, was passiert, wenn die Person, die man liebt, in den eigenen Armen stirbt. Es ist der schlimmste mögliche Ort, denn man ist damit der Ungewollte, der Zurückgestoßene. Als ich die Idee hatte, dies durch die Figur einer Transgenderfrau zu erzählen, hörte ich auf zu schreiben. Ich wusste, dass ich zuerst eine solche Frau treffen und von ihr lernen musste, um Klischees und Vorurteile zu vermeiden. Ich lebte zu der Zeit schon einige Jahre in Berlin und war deswegen nicht mehr auf dem Stand, wie der Alltag an meinem Drehort Santiago de Chile aussieht. Also suchte ich nach einer Beraterin, und als ich Daniela Vega fand, prägte diese Begegnung das gesamte Projekt. Sie machte mir klar, dass ich die Rolle nur mit einer Transfrau besetzen kann. Im Hinterkopf wusste ich schon da, dass es nur sie selbst sein kann, aber erst nach ein paar Monaten, in der sie mir ihre Lebensgeschichte erzählte und wir uns anfreundeten, wagte ich ihr die Rolle der Marina anzubieten.

 

 

Hatte sie bis dahin noch nie vor der Kamera gestanden?

 

Sie studierte klassischen Gesang und hatte erste Erfahrungen auf der Bühne, kaum im Film. Aber sie ist ein geborenes Schauspieltalent, eine echte Naturgewalt. Es war trotzdem ein großes Risiko, sie zu besetzen: Der Film ruht auf ihren Schultern, sie ist in fast jeder Szene zu sehen. Aber ich vertraute meiner Intuition. Mich interessiert immer die spielende Person selbst mehr als die Figur. Und mit Daniela war es die große Chance, im Zentrum einer stilistisch sehr ausgeprägten, komplex erzählten Fiktion eine authentische Person zu haben, die zwar eine Figur spielt, aber es da etwas mehr gibt, das die Kamera einfängt und das den Film auf eine andere Ebene hebt.

 

 

Bereits Paulina Garcia, die Hauptdarstellerin in ihrem vorigen Film »Gloria«, war Ihre Entdeckung für das Weltkino. Wie finden Sie Ihre Schauspielerinnen und wie arbeiten Sie mit ihnen?

 

Paulina war bereits erfolgreich am Theater, aber es stimmt, ich habe ihr die erste Filmhauptrolle gegeben. Auch bei ihr hat mich zuerst die Person interessiert. Vielleicht konstruiere ich Erzählungen, um etwas zu extrahieren, das nur diese Darstellerinnen in sich tragen. Kino kann in diesem Sinne vampiristisch sein, weil man durch ihr Leben dem Film Leben einhaucht. So sehe ich meine Drehbücher: Sie warten auf ihre Darstellerinnen und verändern sich durch sie. Nicht die Schauspielerin passt sich dem Film an, sondern ich schaffe eine Erzählung auf Basis von Elementen, die nur sie einbringen kann. Es geht also immer um zwei Repräsentationsebenen: Es gibt eine hoffentlich fesselnde Fiktion und zugleich sieht man die Performance einer realen Person. Genau in diesem Spannungsfeld liegt das Filmvergnügen. 

 

 

Was fasziniert Sie so an starken Frauenfiguren?

 

Ich glaube, mich interessiert eher Weiblichkeit. Weil sie in unserer Gesellschaft so marginalisiert und bedroht wird, muss sie in ihrer Komplexität repräsentiert und manchmal auch gefeiert und verteidigt werden.

 

 

Sie reflektieren damit zugleich die chilenische Gesellschaft. Brauchten Sie den geografischen Abstand, um eine schärfere Perspektive zu bekommen?

 

Ja, Berlin hatte einen sehr merkwürdigen und wichtigen Einfluss auf die Entstehung des Drehbuchs. Es half, weit weg von Chile zu sein. Mir gefällt das Dadaistische an Berlin. Das ist eine Atmosphäre, die meine Kreativität beflügelt. Diese Art von Seltsamkeit und Freiheit hat das Drehbuch sicher geprägt.

 

 

Auch auf filmischer Ebene geht es um Grenzüberschreitung.

 

Stimmt, die Identität des Films ist nie ganz klar. Es ist eine Liebesgeschichte, ein Thriller, ein Musical, ein Drama. Es ist ein Transgenrefilm über eine Transgenderfigur.

 

Haben Sie eine Erklärung, warum das chilenische Kino in den letzten Jahren so stark ist?

 

Von außen betrachtet mag es wie eine plötzliche Eruption von Filmen gewirkt haben, aber es war das Ergebnis eines relativ langen, organischen Prozesses. Eine Gruppe von etwa gleichaltrigen Filmemachern fing um 2005 an, ihre ersten Filme zu machen. Pablo Larraín und ich veröffentlichten unsere Regiedebüts im selben Jahr. Zuvor war unter der Diktatur das chilenische Kino quasi nicht existent. Wir waren die erste Generation danach, aber wir waren auf eine Art Waisen: Es gab keine Erfahrungen, keine Strukturen, wir waren auf uns allein gestellt. Wir haben uns also gegenseitig geholfen und sind dadurch zusammengewachsen. Es hat viel mit dem Ende der Diktatur, der Demokratisierung des Landes und den Jahren der Freiheit ohne feste Strukturen zu tun. Ganz ähnlich wie in Rumänien übrigens. Es war Fluch und Segen zugleich. Aber unser Hunger war größer als die Hindernisse. Wir wollten einfach unbedingt Filme machen. 

 

 

 


Sebastián Lelio

Lelio wurde 1974 in Argentinien geboren, lebte aber die meiste Zeit seines Lebens in Chile, wo er auch an der nationalen Filmakademie studierte. Sein erster Langspielfilm »La Sagrada Familia« (2005) gewann gleich mehrere internationale Preise. »Gloria« (2012) lief erfolgreich in deutschen Kinos, nachdem er bei der Berlinale mit Silbernen Bären für das beste Drehbuch und die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde.