Körper und Seele

Ist der diesjährige Berlinale-Gewinner ein ungewöhnlicher Liebesfilm

oder eine Anhäufung von Arthouse-Klischees?

 

 

PRO

 

Zwei lieblich schmusende Hirsche in einem märchenhaft verschneiten Wald — so eröffnet Regisseurin Ildikó Enyedi ihren Berlinale-Gewinnerfilm »Körper und Seele«, nur um ihr Publikum urplötzlich, kaum dass es sich in den zärtlichen Bildern von bezaubernder Schönheit verloren hat, mit rücksichtsloser Direktheit in das Setting der Haupthandlung zu werfen: einen Rinder-Schlachthof. Größer könnte der Kontrast nicht sein. Eben noch erschienen die Tiere als beseelte Wesen, nun werden sie als anonyme Körper maschinell zerlegt. Und auch der Raum ändert sich auf verstörende Weise: Wo vorher Weite herrschte, entsteht jetzt spürbare Enge. 

 

Gefängnisse spielen in »Körper und Seele« eine Hauptrolle: Ein Großteil der Handlung findet in Innenräumen statt, die Kamera blickt durch Türen, Fenster und Gänge. Der Fokus ist eng und auf das Detail gerichtet, das Korsett des Alltags jederzeit spürbar. Nur die Waldsequenzen ermöglichen ein Aufatmen — den Menschen, um deren Traumbilder es sich hier -handelt, und dem Kinopublikum.

 

Die Protagonisten sind in sich selbst gefangen, von Ängsten oder auch Leidenschaften getrieben, aber unfähig, dies zu externalisieren. Geschäftsführer Endre hat sich von den Mitarbeitern des Schlachthofs weitgehend isoliert und ist nur noch als Beobachter durch das Fenster zum Hof präsent. Seine neue Angestellte, Qualitätsprüferin Mária, hält die unkontrollierbare Welt durch Zwänge im Zaum.

 

Bald erfahren wir, dass es Endre und Mária sind, die sich des nachts träumend in der Freiheit des Unbewussten zusammen finden, aus ihrer alltäglichen Isolation an einen Ort entfliehen, an dem intime Begegnung möglich wird. Wie scheue Rehe nähern sie sich nun auch im Alltag einander an, verängstigt, stets darauf vorbereitet, beim leisesten Geräusch erschrocken davon zu stürmen.

 

Wie noch vertrauen in dieser Welt voller Blut und Gewalt? Voller Lügen und Intrigen? Voller Sexismus und Diskriminierung? Der Fabrikbetrieb des Schlachthofes ist ein Mikrokosmos, in dem Alltags-Diskurse um Macht und Dominanz mit zum Teil unmenschlicher Härte verhandelt werden.

 

Animalische Menschen bei Tag, menschliche Tiere bei Nacht — die Frage »Wer bin ich?«, so legt »Körper und Seele« nahe, kann nur mit Hilfe eines Gegenübers beantwortet werden. Und so suchen Mária und Endre in dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte nicht nur einander, sondern auch sich selbst.

 

 

 

KONTRA

 

Autisten sind so etwas wie die Lieblingsbehinderten des Kinos der letzten Jahre. Ungefähr im Monatsrhythmus freut sich ein Schauspieler, den »Rain Man« (1988) geben zu können — Dustin Hoffman hat dafür schließlich einen Oscar bekommen. Vielleicht ebenso wichtig war der Dokumentarfilmer Errol Morris mit seinem Porträt über Temple Grandin für seine TV-Serie »First Person« (2001). Grandin, Professorin der Tierwissenschaft und Autistin, erzählt darin, wie sie für Schlachthöfe eine Methode entwickelt hat, die Tiere angstfrei ihrer Tötung zuzuführen. Ihr Leben wurde 2010 auch in einem mit Preisen überschütteten Spielfilm mit Claire Danes in der Hauptrolle verfilmt.

 

Es wirkt tatsächlich so, als hätte sich Ildikó Enyedi für ihren Berlinale-Gewinner »Körper und Seele« hier ihre Inspiration geholt: Auch sie schickt eine junge, hübsche, blonde Frau mit autistischen Zügen in einen Schlachthof — hier als eine übergenaue Qualitätskontrolleurin. Das ist ja nicht schlimm, aber nur ein Beispiel dafür, dass der diesjährige Berlinale-Gewinner, vielleicht doch nicht so wahnsinnig originell ist, wie viele Kritiker geschrieben haben.

 

Das trifft vor allem auf die zentrale Liebesgeschichte zu: Mária knüpft langsam und — aufgrund ihrer speziellen Kontaktschwierigkeiten — mühsam zarte Bande mit einem Kollegen im Schlachthof. Er heißt Endre und ist nicht nur in der Arbeitshierarchie höhergestellt als sie, sondern auch mehr als doppelt so alt. Was mittlerweile bei jedem Hollywoodblockbuster für Entrüstung sorgten würde, scheint hier aber niemanden zu stören: Es ist ja Kunst und die beiden sind so süß schüchtern. Und ich vergaß: Er hat eine körperliche Behinderung, ein lahmer Arm hat ihn, so legt der Film nahe, zu einem besonders feinfühligen Menschen gemacht.

 

Zurück zur Kunst: Das Prädikat holt sich »Körper und Seele« mit einigen recht expliziten Tiertötungssequenzen ab, die beim Berliner Publikum für einige Ohnmachtsanfälle gesorgt haben, die aber leider auch nicht mehr sind als ein Festivalfilmklischee: Wer sich regelmäßig auf solchen Veranstaltungen herumtreibt, wird schon ungefähr so viele Schlachtungen gesehen haben wie ein Metzgermeister. Wirklich bemerkenswert sind allerdings die Traumsequenzen, in denen Mária und Endre als Hirschkuh und Hirsch aufeinandertreffen. Diese Sequenzen, die nur die schnaufenden majestätischen Tiere im Winterwald zeigen, öffnen mit ihrer stummen, sinnlichen Körperlichkeit tatsächlich so etwas wie eine neue Dimension.

 

Wenn bloß die Menschen nicht wären, dann hätte aus »Körper und Seele« wirklich etwas Gewagtes werden können.