Marsch der Schlüsselkinder

Mit Wortneuschöpfungen ist das so eine Sache. Erst kommen sie einem leicht über die Lippen. Doch denkt man genauer über sie nach, spiegelt sich darin ein ganzes gesellschaftliches Dilemma. Allein das Wort »Schlüsselkind«.

 

 

Auf dem Grundschulhof eines 2000-Seelen-Dorfes in den 90ern hatte das Bekenntnis, ein Schlüsselkind zu sein, einen ähnlichen Effekt wie zehn Jahre später der Nietengürtel und der rot gefärbte Iro. Schlüsselkind zu sein, galt als cool. Die meisten dachten wohl an Chips vor dem Fernseher. 

 

Andererseits: Hat die keine Mutter? In einer Welt, in der es zur Mittagszeit nach warmem Essen zu duften hatte, schien man als Schlüsselkind akut von Verwahrlosung bedroht. Heute sind Mütter, die nachmittags arbeiten, längst keine Ausnahme mehr und der Offene Ganztag ist eigentlich immer überfüllt. Schlüsselkind zu sein, ist nicht mehr punk, wenn es das überhaupt jemals gewesen ist. Stattdessen heißt das Trendwort der Stunde »Elterntaxi« — und das ist genauso entsetzlich wie ein »Hotel Mama«-Schild an der Tür zum Einfamilienhaus. Es schreit: »Die Welt da draußen, sie ist rau geworden!«

 

Doch der Rückzug ins Vertraute macht das Leben nicht sicherer. Am allerwenigsten auf dem Weg zur Schule oder zur Kita: Hektisch geparkte Autos vor den Schulen, rasante Wendemanöver und volle Straßen werden immer öfter zu einer Gefahr für Kinder. Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) und der Verkehrsclub Deutschland (VCD) rufen daher auch in diesem Jahr zu den bundesweiten Aktionstagen »Zu Fuß zur Schule« auf. Unter dem Motto »Das Elterntaxi hilft uns nicht!« wird zum Laufen, Rollern und Radeln motiviert. »Gerade im öffentlichen Raum müssen Eltern ihren Kindern wieder mehr zutrauen«, sagt Claudia Neumann vom DKHW.

 

Ein Marsch, der das Ansehen der Schlüsselkinder wiederherstellt. Herrlich! Denn auch dafür ist der Schulweg gut: Endlich einmal Erfahrungen außerhalb der Erwachsenenwelt machen zu können. Und jeder passt auf jeden auf.