Erinnerungen an Utopien

Heinz Emigholz vermisst in seinem Monu­mentalzyklus »Photographie und jenseits« die Moderne des 20. Jahrhunderts

Seit mehr als 15 Jahren arbeitet Heinz Emigholz an einem weit verzweigten Monumentalprojekt namens »Photographie und jenseits«. Zwei aktuelle Filme des über zwanzig Werke umfassenden Zyklus’ werden im November in Köln zu sehen sein: »Bickels [Socialism]« und »Dieste [Uruguay]«, letzterer im Rahmen des Festivals Kino Latino. Das »jenseits« aus dem Titel darf nicht nur als »darüber hinausgehend« verstanden werden, sondern auch als eine Art »auf dem Weg ins Jenseits«. Denn in den Bauwerken, um die sich so viele Teile des Zyklus drehen, steckt stets der Verfall — wobei miese Möbel einen ähnlich zersetzenden Effekt haben wie zum Beispiel Rost.

 

Leider wird »Photographie und jenseits« so gut wie nie in seiner ganzen, das Ineinander von Fotografie, Architektur, Grafik und Film erforschenden Vielgestaltigkeit gewürdigt: Generell werden jene Filme gepriesen, welche sich wie Diavorträge zu einzelnen Architekten benutzen lassen, wie zum Beispiel »Dieste [Uruguay]« über Eladio Dieste. Jene Werke haben es ungleich schwerer, in denen sich Emigholz’ soziopolitisch kritisches Interesse kristallisiert, wie etwa in »D’Annunzios Höhle« (2005). Zugespitzt kann man sagen: Den Emigholz formalistisch-streng gestalteter monographischer Baukunstkontemplationen feiert man, den der bahnbrechenden ästhetischen Hybridisierungen (»Eine Serie von Gedanken«, 2011) und der experimentellen Erzählungen (u.a. »The Airstrip«, 2014) ignoriert man. Emigholz wird so zu einem Vertreter eines doch etwas geistfeindlichen Konzeptminimalismuskinos à la James Benning zurechtgestutzt.

 

Mit »Bickels [Socialism]« (2017), der mit »Dieste [Uruguay]« zu einer bislang vier Filme umfassenden Zyklus-Untergruppe namens »Streetscape Series« gehört, hat Emigholz einen Film geschaffen, der einen regelrechten Drahtseilakt zwischen den beiden Polen von »Photographie und jenseits« darstellt: auf den ersten Blick gehört er zu den strengen Architekturfilmen, von seinem Wesen her passt er eher zu den schwerer zu kategorisierenden Werken. »Bickels [Socialism]« ist nicht nur eine Serie von Betrachtungen meist menschenleerer Außenansichten einiger israelischer Kollektiv-Bauten des Architekten Samuel Bickels. Er bietet auch eine von Melancholie durchsetzte Erinnerung an die progressiven Utopien, die den jungen jüdischen Staat einmal prägten, gerahmt von einer Zusammenkunft in einem Haus der jüdischen Kultur in Brasilien und Gemälden Meir Axelrods. Sichtbar wird hier en miniature eine Geschichte der geistigen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. »Photographie und jenseits« ist ein Schlüssel zur Moderne — ein künstlerischer Liebesgewaltakt, mit dem man gut Jahre seines Lebens verbringen kann.