Acht Frauen sollst Du sein

Lilja Rupprecht zeigt in »Mary Page Marlowe«, dass niemand die Kontrolle hat

Im College beim Tarot hat Mary Page Marlowe noch die Königinnenkarte gezogen. Später wechseln sich Umzüge, Affären, drei Ehemänner und andere Katastrophen ab. Sie wird zur Alkoholikerin, landet im Gefängnis, ihr Sohn stirbt
an Drogen.

 

Ein normales Frauenleben wollte der amerikanische Pulitzer-Preisträger Tracy Letts zeigen. Er montiert elf Schlüsselszenen aus 69 Jahren und würfelt Alter und Jugend, Leid und Glück wild durcheinander. Am Ende ist das Leben der Titelfigur alles andere als normal verlaufen, vielmehr tragisch und extrem.

 

Trotz Auflösung der Chronologie der Ereignisse hört sich vieles wie ein konventionelles Well-Made-Play an. Am Schauspiel Köln fügt die junge Regisseurin Lilja Rupprecht  dem Geschehen eine kosmische Dimension hinzu: Mary Page Marlowe wird von Frauen in unterschiedlichsten Lebensaltern gespielt. Als sie am Ende friedvoll auf dem Sterbebett auf ihr Leben zurückblickt, ist die Darstellerin ein kleines Mädchen. Als sie nach dem Tod ihres Sohnes der Trunksucht verfällt, ist aus der filigranen Schauspielerin Nicola Gründel die kräftige Sabine Orléans geworden. Als Mary Page beim Therapeuten verzweifelt zugibt, dass sie nicht weiß, wer vor lauter Rollen in ihrem Leben die Register zieht, sieht sie sich gar von acht Darstellern im gleichen Kleid gespiegelt: Männer und Frauen, Dicke und Dünne, Junge und Alte. Ein schöner Kunstgriff

 

Was entscheiden wir selbst? Was ist Zufall? Wie behalten wir Orientierung im Chaos, was gibt einer Biografie den inneren Zusammenhang? Die Regisseurin hat kein Theatermittel gescheut, um dem Realismus der Vorlage philosophische Tiefe zu geben: Videoprojektionen flackern als Erinnerungsgeister über das Haus, die Drehbühne kreist unerbittlich wie das Lebenskarussell. Es gibt viele bewegende Momente: Letztlich geht Mary Page Marlowe uns alle an. Wie sie sind wir in ein seltsam zersplittertes Schicksal geworfen und wissen nicht genau, was uns treibt und lenkt.

 

Das Bühnenbild von Anne ­Ehrlich ist kongenial gestaltet: am Anfang steht ein kleines weißes Haus im Bühnennebel. Immer weiter öffnet es sich, wird auseinandergenommen und anders zusammengesetzt: ein Bild für die vielen Behausungen im Leben — und für die Baukasten-Existenz jeden einzelnen Schicksals. Tröstlich geradezu, dass Mary Page am Ende dann doch als stolze, starke Frau ihren inneren Anker gefunden hat. Das ist ein starkes, dichtes Stück Theater.