Hölle Alaaf! Ist der Karneval noch zu retten ?

Der Karneval ist ein Fest der Anarchie und der Umkehrung der Werte: Entgrenzung, Rausch, Exzess heben die Ordnung auf. Das einfache Volk verkleidet sich und probt den Aufstand, indem es mit Konventionen bricht. Die kölschen Jecken haben zum Auftakt der laufenden Session also ganze Arbeit geleistet: Am Elften im Elften wurde massenweise gesoffen, gepöbelt und randaliert. Kölns Innenstadt glich einem Schlachtfeld. Solche Auswüchse will die Stadt Anfang Februar verhindern. Wie soll das funktionieren? Kann man dem Karneval Regeln auferlegen? Oder ist er ohnehin längst zum kölschen Ballermann-Event für Party-Touristen geworden?

 

 

Kostümiert kam niemand. Der Dresscode war business casual. Es gab weder Mett-Igel noch Krapfen und auch kein Pittermännchen. Bloß Filterkaffee in Thermoskannen und Orangensaft. Rund 30 Menschen saßen vor ihren Platzkärtchen am Runden Tisch, um Maßnahmen gegen die »negativen Begleiterscheinungen im Straßenkarneval« zu erarbeiten. Genau elf Tage nach dem Elften im Elften lud Oberbürgermeisterin Henriette Reker die Vertreter von Polizei, KVB, städtischen Ämtern, Stadtmarketing, Festkomitee, Karnevalsvereinen, Studierenden der Universität sowie Anwohnerinitiativen ins Rathaus. 

 

»Der Karneval gehört zur Kultur unserer Stadt. Aber von Kultur ist immer weniger zu sehen. Weder unseren Karneval noch das Ansehen unserer Stadt wollen wir uns kaputt machen lassen«, hatte Reker die Runde eingeschworen. Ihre Forderung: »So darf und kann es nicht bleiben.« Anlass waren die Ausschreitungen zu Sessionsbeginn. Die Menschenmengen, die sich am 11. November in der Innenstadt drängten, hinterließen eine Schneise der Zerstörung. Die Jecken pissten in Hauseingänge und Treppenhäuser, kotzten mitten auf den Bürgersteig, sie beleidigten Ordnungskräfte, provozierten Schlägereien oder warfen im Überschwang Bierkrüge in Menschenmengen. So schlimm, da waren sich die karnevalserfahrenen Teilnehmer am Runden Tisch einig, war‘s noch nie. 

 

Dabei stehen die Exzesse im Fastelovend schon länger in der Kritik. Vor allem im Zülpicher Viertel häufen sich seit Jahren Beschwerden der Anwohner über den feiernden Mob.

 

 

»Aggressive Grundstimmung«

Aber an diesem Elften im Elften waren die Folgen der Enthemmung in der gesamten Innenstadt sichtbar. Die Stadtspitze geißelte »Alkohol-Exzesse, Vermüllung, Wildpinkeln und zunehmende Aggressivität«.

 

Wie immer war auch dieser Elfte im Elften für das Ordnungsamt, die Polizei und die Rettungsdienste Großkampftag. 152 Mitarbeiter des Ordnungsamts wurden von rund 500 Kräften privater Bewachungsunternehmen unterstützt, meist im Zülpicher Viertel und der Altstadt. Dort setzten sie zunächst vor allem das Glasverbot durch. Wegen des Andrangs mussten schon vor elf Uhr Heumarkt und Alter Markt abgeriegelt werden, am Nachmittag auch das Zülpicher Viertel, weil »eine Überlastung drohte und zusätzlich eine aggressive Grundstimmung einzelner Personengruppen vorlag«, wie das Amt mitteilte. Das Ordnungsamt bitte die Jecken, in anderen Veedeln zu feiern, hieß es in einer Eilmeldung. Ordnungskräfte seien angepöbelt, angegriffen und mit Flaschen beworfen worden. Und eine weitere Folge des Alkoholkonsums trieb die Ordnungskräfte um: Sie gingen gegen 172 männliche und zwölf weibliche Wildpinkler auf der Straße oder in Hauseingängen vor.

 

Während Ordnungswidrigkeiten zunehmen, verzeichne die Polizei aber einen »positiven Trend«, sagt deren Sprecher Christoph Gilles. Er nennt beispielhaft Fahrrad-, Ladendiebstahl oder Raub. Eine Ausnahme aber stellen Körperverletzungen und Sexualdelikte dar, denn deren Zahlen steigen. Dass der Karneval zunehmend verrohe, lasse sich anhand der Straftaten aber nicht belegen. »Bei Sexualdelikten beobachten wir in der jüngeren Vergangenheit ein sensibleres Anzeigeverhalten«, erklärt Gilles den Anstieg, auch weil die Gesetzgebung zur sexuellen Belästigung verschärft wurde. Und der Anstieg der angezeigten Körperverletzungen sieht Gilles auch in der stärkeren Präsenz der »Ordnungspartnerschaft Ringe« begründet, einem Zusammenschluss, bei dem Türsteher von Diskotheken und Clubs mit Polizei und Ordnungsamt zusammenarbeiten. »Wir sind jetzt schneller vor Ort — nicht erst, wenn sich Schlägereien wieder aufgelöst haben«, erklärt Gilles.

 

Das Augenmerk richtet die Polizei vor allem auf die Sicherheitslage. Aber nicht enthemmte Flugbegleiterinnen aus Bergheim oder pöbelnde Franziskaner-Mönche aus Olpe bereiten der Polizei Sorgen — sondern echte Terror-isten. »Wir sprechen grundsätzlich von einer erhöhten Gefährdungslage«, sagt Gilles. Er rechnet im Straßenkarneval mit einer Personalstärke wie im Vorjahr, als an Weiberfastnacht 2200 und am Rosenmontag 1700 Beamte Dienst schoben. »Wir sind mit unserem Sicherheitskonzept bislang gut gefahren.« Auch in diesem Jahr werde es ein LKW-Fahrverbot in der Innenstadt, Fahrzeugsperren wie Betonklötze sowie im Stadtbild sichtbare Polizei-präsenz geben. »An Kollegen mit Maschenpistolen wird man sich im Karneval gewöhnen müssen«, so Gilles.

 

 

»Wir sind an der Kapazitätsgrenze«

An vieles gewöhnt sind auch die Sanitätsdienste. »Die Karnevalstage sind für uns eine maximale Herausforderung«, sagt Johannes Feyrer, Leiter der Kölner Berufsfeuerwehr, die auch Träger des Rettungsdiensts ist. In Köln arbeiten Berufsfeuerwehr, Hilfsorganisationen wie die Malteser und seit vergangenem Jahr auch ein privater Betreiber zusammen. »Wir sind hauptsächlich mit den direkten und indirekten Folgen von Alkohol konfrontiert«, sagt Feyrer. Er nennt Kreislaufzusammenbrüche, Schnittverletzungen, Alkoholvergiftungen und Schlägereien. 

 

Zwar sind Rettungseinsätze in Köln mittlerweile ganzjährig auf einen Tagesdurchschnitt von 350 Einsätze gestiegen. Aber am Elften im Elften gab es zuletzt 1010 Einsätze, an Weiberfastnacht sogar 1112. »Wir sind an unseren Kapazitätsgrenzen angelangt«, sagt Feyrer. 

 

Mögen all die Statistiken nicht eindeutig eine Verrohung des Straßenkarnevals belegen können, so hat sich doch die Atmosphäre spürbar verändert. Kölle es e Jeföhl, wie die Höhner singen. Aber an den Karnevalstagen haben immer mehr Kölner ein schlechtes oder mulmiges Gefühl. Und das wird nicht durch Ärger über Ordnungswidrigkeiten oder Angst vor Straftaten hervorgerufen, sondern durch eine Stimmung, die eher an Ballermann erinnert als an jenen Karneval, der im kölschen Liedgut beschworen wird. Der Schock über den Elften im Elften ist nur der bislang letzte Höhepunkt einer Entwicklung, die schon vor zehn, 15 Jahren einsetzte und der die Stadt weitgehend tatenlos zusah.

 

Kampagnen wie das Glasverbot an typischen Krawall-Schwerpunkten sind da eine Ausnahme. Weil sich insbesondere im Straßenkarneval rund um die Zülpicher Straße die Rettungseinsätze häuften, hatte der Rat im Jahr 2009 ein »Glasverbot« beschlossen, was damals durchaus umstritten war. Gastronomen und Kioskbesitzer fühlten sich drangsaliert. Doch die Stadt nahm alle juristischen Hürden, heute gibt es weitgehend Zustimmung zu dem Verbot.

 

Auch läuft seit Ende der 90er Jahre die Kampagne »Keine Kurzen für Kurze«, die den gesetzlichen Jugendschutz bei alkoholischen Getränken garantieren soll. Zudem hat die Stadt soeben die Aktion »Respekt« gestartet — mit fluoreszierenden Armbändchen soll man die Wertschätzung für seine Mitmenschen, aber auch »Einrichtungen, Sachen, Natur und Ressourcen« bekunden. 

 

Aber solche Ideen reichen nicht aus, um den Karneval zu dem zu machen, was im City-Marketing beschworen wird: ein zwar ausgelassenes, aber fröhliches Fest für die ganze Familie.

 

 

»Die machen unseren Karneval kaputt«

Der Elfte im Elfte war zuletzt auf einen Samstag gefallen. Wer sich besaufen wollte, musste nicht extra freinehmen und konnte am nächsten Tag trotzdem ausschlafen. War es das, was den diesjährigen Ansturm und das Massenbesäufnis auslöste? Tausende Menschen kamen nach Köln, doppelt so viele Menschen wie im Vorjahr sollen es nach offiziellen Schätzungen gewesen sein. 

 

Für die meisten Teilnehmer des Runden Tischs war schnell klar, dass das Problem nichts mit Köln zu tun habe. »Menschen, die von außerhalb kommen, machen uns unseren Karneval kaputt«, so die These. 

 

In drei Arbeitsgruppen diskutierte der Runde Tisch über neue Veranstaltungformate, über PR-Kampagnen sowie über den Zusammenhang zwischen Gastronomie, öffentlichen Raum und Sicherheit.

 

Erste Ergebnisse lagen bereits nach einem Monat vor. Mitte Dezember stellten OB Reker und Festkomitee-Präsident Kuckelkorn sie im Kölnischen Stadtmuseum vor — es musste schnell gehen, nur noch acht Wochen bis Weiberfastnacht! Was ist bis dahin noch zu retten vom kölschen Brauchtum auf der Straße?

 

Neben naheliegenden Ideen — mehr Toiletten, schnellere Müllbeseitigung, bessere Sicherung des Stadtbahnverkehrs — soll die Lösung der Probleme in einem zusätzlichen »Sicherheitsbereich mit Zugangssteuerung« liegen: In Höhe der Uni-Mensa an der Zülpicher Straße wird es ein Bühnenprogramm für eine junge, studentische Zielgruppe geben. 30.000 Euro sind dem Vernehmen nach für das Bühnenprogramm veranschlagt. Brings und Kasalla
spielen, dazwischen legen DJs auf. 

 

Die Menschen, die nach Köln kommen, dürfe man nicht sich selbst überlassen. Tatsächlich gilt dies als wichtigste Erkenntnis von Rekers Rundem Tisch. Probleme bereiten nicht organisierte Veranstaltungen, sondern alles, »was sich irgendwo auf der Straße abspielt«, sagt auch Feuerwehr-Chef Johannes Feyrer über die enorm vielen Einsätze der Rettungskräfte. Insofern erhöhen Veranstaltungen die Sicherheit, die Jecken sind hier besser unter Kon-trolle, um nicht sich selbst oder andere zu gefährden.

 

 

 

Demo gegen den Runden Tisch

Längst nicht alle halten das für die cleverste Idee. Eine Initiative formiert sich unter Anwohnern, Gastronomen und Ladenbesitzern. Sie befürchten, dass eine weitere Veranstaltung noch mehr Menschen anziehen werde. Für den 2. Februar haben sie eine Demonstration angekündigt — eine Woche vor Weiberfastnacht.

 

Während Reker betont, wie großartig sie es finde, dass zum Runden Tisch alle wiedergekommen seien, »und zwar jede Woche«, hört man von Beteiligten, dass zwar die meisten Gruppen vertreten waren, aber oft mit unterschiedlichen Sprechern. »Erstes Treffen: Kennenlernen. Zweites Treffen: Was machen wir? Drittes Treffen: Was hatten wir noch besprochen? Viertes Treffen: Schlussrunde« — so beschreibt es jemand, der dabei war.

 

Zu vielen Problemen beruft die Stadtspitze einen Runden Tisch ein: Rekers Tafelrunden tagen, um ein Dieselfahrverbot zu verhindern, die Drogenmisere in den Griff zu bekommen oder eben auch, um Ausschreitungen an den Karnevalstagen zu verhindern. Die Ergebnisse dieser Runden Tische kommen aber allesamt zu spät, so auch die Vorschläge zum Straßenkarneval. Runde Tische sind auch ein Eingeständnis, dass man Probleme zu spät erkannt oder verdrängt hat.

 

Jan Krauthäuser hat die Diskussion am Runden Tisch auf der einen Seite sehr positiv wahrgenommen, habe sich auf der anderen Seite aber geärgert, dass »einigen Entscheidern der Mut und die Fantasie fehlte, etwas Originelles auszuprobieren«. Krauthäuser ist Initiator der Humba-Partys, bei denen Karneval international verstanden wird. Musiker aus Südamerika oder Afrika bringen ihre Interpretation von kölschem Karneval zu Gehör — als Reggae, Folk, Electronic oder Hip-Hop. »So Multi-Kulti, ja, das finden alle toll«, sagt Krauthäuser amüsiert. »Aber wenn es darum geht, es umzusetzen, schrecken viele zurück.«

 

Krauthäuser hatte OB Reker einige Ideen zur »Rekultivierung des Straßenkarnevals« vorgelegt. Sein Credo von »mehr Kultur und Vielfalt im Karneval« fand am Runden Tisch zwar durchaus Zustimmung, könnte aber allenfalls ein langfristiges Ziel sein, habe man beschlossen, erzählt Krauthäuser. Er will ein »progressives Brauchtum«, liebt dabei aber die kölschen Karnevalstraditionen, weil sie »einen positiven Spirit« haben. Zudem sei der kölsche Fastelovend »durch seine universelle Teilhabe ein perfektes Integrations-Instrument«. International findet Krauthäusers Ansatz Beachtung, in Köln tut man sich schwer damit.

 

Statt mit Repression müsse man positiv und mit neuen Ideen auf die Herausforderungen reagieren. Wer etwas Wertvolles erlebe, besaufe sich auch nicht — aus Sorge, etwas zu verpassen. In der Südstadt und im Zülpicher Viertel hätte er am liebsten eine »modulare Landschaft von Bühnen und Aktionspunkten« geschaffen und mit vielen kleinen Darbietungen die ganze Vielfalt des Karnevals präsentiert. So hatte es Krauthäuser vor 15 Jahren im brasilianischen Recife selbst erlebt. Er sagt: »Ich mache keine Events — ich mache Anti-Events.« Viele am Runden Tisch scheint so etwas zu irritieren.

 

Dabei denkt Festkomitee-Präsident Kuckelkorn ganz ähnlich. »Ich sehe es als unsere Aufgabe an, den Karneval in den Veedeln zu stützen und zu verankern«, sagt er. »Wir brauchen den Spirit, den Veranstaltungen wie der Tag des guten Lebens beschwören. Das heißt Nachbarschaft und lokales Kolorit.«

 

Mit einem Event beginnt seit rund einem halben Jahrhundert auch der offizielle Countdown in den tollen Tagen: der Massenveranstaltung in der Altstadt. Die Bilder von dort gehen durch die Republik. Doch die Veranstaltung ist umstritten. 2015 hatten die Bläck Fööss den Termin abgesagt: zu laut und nicht mehr kölsch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch andere kölsche Granden diese Einschätzung teilen. Doch die Auftritte samt TV-Übertragung sind eben lukrativ.

 

Die Bläck Fööss wechselten dennoch zum Tanzbrunnen. Seit 2013 veranstaltet die Karnevalsgesellschaft »Die Grosse von 1823« hier eine Sessionseröffnung. Rund acht Stunden Programm mit Karnevalsbands »in gepflegter, familiärer und sicherer Umgebung«. Karten kosten elf Euro zuzüglich Vorverkaufsgebühr, kleine Kinder kommen umsonst rein, der Reinerlös ist für einen mildtätigen Zweck. Eine Veranstaltung »von Kölschen für Kölsche«, so die Werbung. Auch das ist ein Problem: Der Karneval separiert sich in Veranstaltungen für Karnevalsjecke und Ballermänner und -frauen.

 

»Am Tanzbrunnen gibt es ein Konzept, eine Struktur, ein Programm, da gibt es auch geschützte Räume für die Kinder«, sagt Festkomitee-Präsident Kuckelkorn. »Aber da sind auch die Menschen, die früher in der Stadt gefeiert haben und dort jetzt fehlen.« Wer also soll den Touristen zeigen, was richtiger Karneval ist? »Bloß auf der Straße zu stehen und Bier zu trinken, ist nicht der kölsche Karneval«, sagt Kuckelkorn. Den findet man vor allem in den Veedeln. Dort sei der Karneval tatsächlich noch ein Fest für die ganze Familie. »Das Schlimmste wäre, wenn der Sog zu den großen, zentralen Veranstaltungen immer größer würde«, sagt Kuckelkorn. »Wir müssen weg davon, noch mehr Mega-Events in eine vollgepackte Stadt zu setzen. Wenn wir viele kleine Veranstaltungen haben, ist das für die Feiernden schöner und für die Anwohner auch erträglicher.«

 

Dass es für die Anwohner oft unerträglich wird, liegt nach deren Auffassung auch an der Gastronomie. Im Zül-picher Viertel wird das Inventar vielerorts ausgelagert, riesige Boxen in die offenen Fenster gestellt — die Karnevalssause findet dann draußen statt. 

 

Prompt bekamen die Wirte in der Altstadt, im Zülpicher Viertel und der Südstadt als erste die Maßnahmen des Runden Tischs zu spüren. Sie sollen während des Straßenkarnevals keine zusätzliche Außengastronomie betreiben dürfen. Wie das Ordnungsamt den Gastronomen Anfang Januar in einem Schreiben mitteilte, sei eine »deutliche Einschränkung der Versorgungsstände und Aufbauten der Gastronomiebetriebe« vorgesehen. Die »Verweildauer des Publikums im öffentlichen Raum« habe »in vielen Bereichen zu entsprechenden Verdichtungen, Verunreinigungen und Gefahren geführt«. Die Wirte liefen Sturm, sie fürchten um ihre Umsätze. »Diese Maßnahme ist wertlos«, sagt Christoph Becker. Er ist für den Regierungsbezirk Köln der Geschäftsführer der Dehoga, dem Lobbyverband des deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes. »Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man so die Probleme in den tollen Tagen lösen kann«, sagt Becker. »Ich habe den Eindruck, man hat diese Maßnahme getroffen, um sagen zu können: Seht her, wir haben doch was gemacht«, sagt Becker. »Ich vermisse ein Gesamtkonzept mit einer klaren Idee.« Auf der einen Seite werde Wirten keine Außengastronomie mehr gestattet, auf der anderen Seite könnten Kioske und Einzelhandel weitermachen wie bisher. Den Gastronomen sprang zügig die Politik zur Seite: Grüne und SPD in der Bezirksvertretung Innenstadt wollen die Verwaltung mit einem Antrag auffordern, die Verbote zurückzunehmen. Die Stadt aber sprach in der Zwischenzeit gleich die nächsten Restriktionen aus: Auch Konzessionen für Bierbuden, in den Vorjahren dutzendfach im Einsatz, will das Ordnungsamt diesmal keine vergeben. Bisher ist der
Karneval für Gastwirte ein lukratives Geschäft. Mancher Wirt kommt nur deshalb nicht in die roten Zahlen, weil er an den tollen Tagen die Kneipe leerräumt, um so viele Gäste wie möglich mit Kölsch zu versorgen. Das lohnt sich oft selbst dann, wenn anschließend erst mal renoviert werden muss.

 

Auch etablierte Musiker und professionelle Spaßvögel verdienen gut am Karneval. Aber was ist außerhalb der Session? Mit einem Karnevalsprogramm lässt sich dann nicht viel verdienen, selbst wenn längst die Grenzen zwischen humorigem Brauchtum und Allzweck-Comedy verwischen. Denn im schlechtesten Fall dauert die Session weniger als acht Wochen. Die kurze Zeitspanne und das ohnehin jahresbedingt trübe Wetter mindern den Profit. Die Idee: Um das Publikum noch mal bezahlen zu lassen, lässt man das traditionelle Fest in optimierter Kopie auch im Hochsommer stattfinden. Seit zweieinhalb Jahren gibt es das Festival »Jeck im Sunnesching«. 

 

Köln habe nun nicht nur eine fünfte, sondern eine »sechste Jahreszeit« meldet der Initiator, die Gaffel-Brauerei, Anfang 2015. Am 29. August 2015 trafen sich stadtweit vom Aachener Weiher bis zur Schaafenstraße rund 50.000 Jecken. Quasi auf halber Durststrecke zwischen Aschermittwoch und der nächsten Weiberfastnacht.

 

»Die Kirchen können sich nicht dagegen wehren, was aus Weihnachten geworden ist«, sagt der Brauchtums-Historiker Wolfgang Oesner. »Aber sie sind auch nicht so blöd, in der Christmette am Altar noch einen Glühweinstand aufzumachen.« 

 

Renommierte kölsche Musiker wie Björn Heuser und Stephan Brings stört das nicht. Sie sprangen auf den Zug auf. Dabei ist allein der Name des Festivals schon schlechtes Kölsch. »Jeck em Sonnesching« wäre korrekt, weiß die »Akademie för uns kölsche Sproch«, maßgebend bei allen sprachlichen Zweifelsfällen. Gestandenen Karnevalisten geht aber deshalb vor Wut die Narrenkappe hoch, weil das Brauchtum pervertiert werde. Selbst Narren richten ihre Anarchie am christlichen Osterdatum aus, am Ascher-mittwoch ist alles vorbei und geht vor dem nächsten 11. November nicht wieder los.

 

Auch für das Festkomitee ist das ein Ärgernis. Festkomitee-Präsident Christoph Kuckelkorn zeigt auf ein T-Shirt, das die rot-weißen Wände seines Büros in Braunsfeld schmückt. »Kein Alaaf im Advent« steht darauf. »Karneval, das sind für mich die Tage von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch«, sagt er. »Für uns Karnevalisten ist der Elfte im Elften gefühlt gar nicht der
Sessionsstart.«

 

 

Fehlstart mit Schnapszahl?

Die Sessionseröffnung am Schnapszahl-Datum ist schon terminlich eine Entgrenzung. Denn der 11. November ist keineswegs immer Start der Session gewesen. Eigentlich ist es der Tag des Heiligen Martin. 

 

Traditionell wurde am Martinstag im Spätherbst in der Landwirtschaft das Gesinde entlassen und ausgezahlt, erklärt Wolfgang Oelsner, der zahlreiche Bücher zum Brauchtum geschrieben hat und auch zum Beginn und Abschluss an Rekers Rundtisch vortrug. Mit dem Lohn wurde umgehend ausgiebig gefeiert — auch, weil früher am Tag darauf die Adventszeit begann, die damals noch Fastenzeit war: 40 Tage, die Sonntage nicht mitgezählt, wie vor Ostern.

 

Indem man den Karneval am Elften im Elften beginnen lässt, kollidiert das eine Brauchtum mit dem anderen. Im NRW-Landtag wollen CDU, SPD, FDP und Grüne neuerdings die Martinszüge bei der Unesco als »immaterielles Welterbe« eintragen lassen. Für Köln aber würde das bedeuten, dass der Elfte im Elften zukünftig wieder der Tag der Martinszüge wäre. Die aber müssen bislang vom Termin weichen — man kann Kindern kaum zumuten, am Abend mit ihren selbstgebastelten Laternen über Schnapsleichen, Erbrochenes und demoliertes Stadtmobiliar zu tapern.

 

Statt Brauchtum gibt es vor allem Mega-Events ohne lokalen Bezug. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte der damalige OB Fritz Schramma (CDU) Köln zur »Eventstadt« erklärt. Unter seiner Ägide erarbeitete sich die Stadt den Ruf, hier könne man hemmungslos feiern — und sein Geld ausgeben. »Mir wäre es lieber, Köln würde mehr als Kultur- denn als Spaßstadt wahrgenommen«, sagt die OB Reker heute, mehr als anderthalb Jahrzehnte nach Schrammas Party-Offensive. »Aber auch der Karneval ist unser Kulturgut«, fügt Reker an. Nur: Bis wohin ist Karneval noch Kulturgut und wo fängt Ballermann an? Dass sich Karneval und andere Events gleichen, liege auch an einer »Karnevalisierung der Gesellschaft«, sagt der Psychologe und Karnevalsforscher Wolfgang Oelsner. Selbst die Verkleidung gehört längst zu vielen Veranstaltungen dazu, ganz gleich ob Events wie das »Amphi Festival« am Tanzbrunnen oder private Motto-Partys. Köln scheint komplett karnevalisiert. Ob CSD oder Gamescom, Deutzer Kirmes oder Kölner Lichter, ob Köln-Marathon oder die Niederlagenserie des FC — irgendwie wird alles karnevalesk. Selbst das ödeste Straßenfest, das nur dem Einzelhandel als Werbefläche dient, wird nach ein paar Kölsch mit »Viva Colonia« geadelt. Karneval ist immer und überall. 

 

SPD und Grüne versuchten 2007 mit einem Platzkonzept, die Zahl der vielen Großveranstaltungen in der Innenstadt zu senken. Als Anfang 2008 SPD, Grüne und Linke im Rat beschlossen, die jährliche Sitzung der KG »Alt-Köllen vun 1883« nicht mehr mitten auf dem Neumarkt zuzulassen, protestierten Karnevalsfunktionäre erfolgreich mit schwarzen Pappnasen: Die Veranstaltung wurde zur »Volkssitzung« umgemodelt und findet nach wie vor jeden Januar im beheizten Mega-Bierzelt statt. In der politischen Auseinandersetzung den offiziellen Karneval zu kritisieren, ist ein Tabu.

 

Das hat auch Thomas Hegenbarth erlebt. Für die Piratenpartei zog er 2014 in den Rat der Stadt ein. Im März 2015 stellten die Piraten eine Anfrage zur finanziellen Förderung des Kölner Karnevals durch die Stadt, sie waren einer ähnlich lautenden Anfrage der Linken im Ausschuss Allgemeine Verwaltung und Rechtsfragen gefolgt: Welche direkten und indirekten Kosten kommen durch den Karneval auf die Stadt zu? Wie sind unterschiedliche Veranstalter daran beteiligt? »Uns ging es darum, Transparenz zu schaffen«, sagt Hegenbarth. »Da darf der Karneval keine Ausnahme sein.«

 

Hegenbarth nennt den Karneval den »heiligen Gral« der Kölner Politik. »Der Karneval findet sich überall in der Stadtgesellschaft — natürlich auch in der Politik.« Kaum ein einflussreicher Lokalpolitiker, der nicht karnevalistisch verbandelt wäre. Karnevalsmuffel auf einflussreichen Posten — kaum vorstellbar. Es dauerte neun Monate, bis Linke und Piraten eine Antwort aus der Verwaltung erhielten und die Kosten benannt wurden: Der Ordnungsdienst kostet 136.000 Euro, die Müllbeseitigung schlägt mit 320.000 Euro zu Buche, für sonstige städtische Maßnahmen sind es rund 1,7 Mio. Euro. 

 

Hegenbarth blickt die Zülpicher Straße hinunter. Noch vier Wochen bis Weiberfastnacht. Wo sich jetzt Studenten über enge Gehwege schieben, wird dann vor lauter besoffenen Kampfpiloten und Pipi Langstrumpfs kein Meter Asphalt mehr zu sehen sein. »Der Karneval wird in fünf oder zehn Jahren nicht mehr der sein, der er mal war«, glaubt er. Die Feierkultur habe sich gewandelt. Die Politik müsse den Karneval nun »proaktiv mitgestalten und Leitbilder entwickeln«, sagt er. »Die Stadt muss wieder mehr Verantwortung für den Karneval übernehmen und sich an einer langfristigen Konzeption beteiligen.« 

 

»Viele Menschen wollen hier genau diese Art Party erleben«

Auch Wolfgang Oelsner konstatiert einen Wandel in der Feierkultur: »Viele Menschen wollen hier genau diese Art Party erleben — in Verkennung dessen, was wir in Köln eigentlich anbieten wollen«, sagt der Historiker. Muss man den Menschen also Karneval besser vermitteln? 2007 hat Oelsner ein Buch veröffentlicht: Karneval — Wie geht das? Von Seiten der Stadt ist als Antwort auf diese Frage bislang nicht viel gekommen. Den Karneval nun einzuhegen, deutliche Grenzen zu setzen, steht im Widerspruch zum Image, das sich Köln in den vergangenen Jahren im City-Marketing gegeben hat. 

 

Knut Wiesner überrascht die Entwicklung des Kölner Karnevals nicht. Der Volkswirt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt forscht zu Tourismusmanagement und Destinations-Marketing, außerdem berät er Städte und Gemeinden dazu. Eventisierung habe sich zu einem gesamtgesellschaftlichen Trend entwickelt, sagt Wiesner. »Immer mehr Menschen wollen in möglichst kurzer Zeit viel erleben. Und jeder will darüber nachher etwas berichten können.« 

 

Die Karnevalstouristen reisen mit einer Erwartungshaltung an: Jetzt muss etwas passieren. »Die Stadt Köln profiliert sich seit Jahren mit dem Karneval und anderen Events«, sagt Wiesner, der in Bonn lebt. Auf den Seiten von Köln-Tourismus finden sich zuhauf Sätze wie »Die fünfte Jahreszeit macht alle Kölner, Gäste und Immis zu Jecken«. Im Wettbewerb der Städte und Kommunen sind Events beliebt, man kann sie »kreieren und entsprechend vermarkten«, sagt Wiesner. »Wir sind in dieser Entwicklung aber an einem Scheitelpunkt angekommen.« Im Rahmen der sogenannten Governance einer Stadt müsse ein Ausgleich zwischen den einzelnen Interessensgruppen geschaffen werden. Wenn die Stadtgesellschaft auf die Barrikaden geht, ist die Stadt zum Handeln gezwungen. Mit Verteuerung sowie zeitlichen oder örtlichen Einschränkungen könne man unter Umständen zwar korrigierend eingreifen. »Letztlich aber braucht man eine veränderte Zielsetzung im Umgang mit Karneval als Tourismusevent.« Gerade bei einem Fest, das nur einmal im Jahr stattfindet, benötige ein solcher Prozess Jahre, sagt Wiesner.

 

So viel Zeit bleibt aber nicht, bis an Weiberfastnacht um 11.11 Uhr der alljährliche Kontrollverlust erneut in Köln Einzug hält. Dann wird man den Karneval wieder als das nehmen müssen, was er ist: ein Fest, das sich Bahn bricht, wie es ihm passt.