Milano Mio Caro

Das Avantgardelabel »Die Schachtel« aus Mailand macht die widersprüchliche Geschichte der Stadt fruchtbar

Im letzten Winter erzielte eine Bevölkerungsbefragung in der Lombardei ein klares Votum für mehr Unabhängigkeit. Das Referendum wurde von rechten Kräften vorangetrieben, um die Zuschüsse für Süditalien zu stoppen. Mailand selbst, lange Hochburg der Berlusconi-Partei Forza Italia, wird seit 2011 von einer Mitte-Links-Koalition regiert. Mit diesem Wechsel in der Stadtregierung hat sich in den letzten Jahren auch eine dynamische subkulturelle Szene entwickelt. In einer seit 2012 besetzten ehemaligen Großmarkthalle im Osten Mailands hat sich etwa das alternative Kulturzentrum Macao etabliert. An der Schnittstelle von elektronischer Musik, Bildender Kunst und Aktivistenkultur veranstaltet dort ein Kollektiv ein spannungsgeladenes Programm aus Konzerten und Performances. Im Dezember traten in der prächtig patinierten Halle BDSM-Künstler auf. Bei eisigen Temperaturen steckten sich ganzkörpertätowierte Ledertypen zu Hauntology- und Industrialklängen Stahlnägel durch die Haut. Im Februar hielt im Macao die feministische Bewegung »Non Una Di Meno« ihre Nationalversammlung ab, um gegen sexistische Männergewalt zu mobilisieren.

 

Neben dieser sehr aktiven Szene gibt es mit dem Label Die Schachtel auch einen Akteur, der sich neben aktueller experimenteller italienischer Musik auch um das musikalische Erbe der Stadt kümmert. In kleinen Editionen veröffentlicht das Label seit 15 Jahren mit großem redaktionellen und gestalterischen Aufwand historische Avantgardemusik aus Italien. Bruno Stucchi, einer der Labelbetreiber, erklärt, dass der Wandel in der Stadt dazu geführt habe, dass diese Musik (wieder) überregional wahrgenommen werde.  Mit der Mitte-Links-Regierung sei ein neuer, progressiver Kulturdezernent installiert worden, der selber Komponist ist. »Den bis dahin Verantwortlichen war schon die Musik eines Gustav Mahler zu avantgardistisch«, führt Stucchi aus. Sein nach einem Stück des Outsiderkomponisten Franco Evangelisti benanntes Label kann an eine reiche Geschichte anknüpfen: Mailand war in den Fünfzigern mit dem Studio Di Fonoligia eins der wichtigsten Zentren der elektroakustischen Musik in Europa, in den Sechzigern bildete sich dort eine Improvisationsszene von internationalem Ruf heraus und in den Siebzigern folgte eine ebenso virulente Progrock-Szene.

 

Das 2003 von den zwei Vinylliebhabern Fabio Carboni und Bruno Stucchi gegründete Label ist vor allem damit bekannt geworden, dass es Werke von Komponisten veröffentlicht, die im Studio Di Fonologia des staatlichen Radiosenders RAI wirkten. Das Studio wurde 1955 von Bruno Maderna und Luciano Berio nach dem Vorbild des Kölner Studios für elektronische Musik aufgebaut und etablierte sich als internationaler Hotspot für aktuelle Musikproduktion. Die erste Veröffentlichung auf Die Schachtel waren 2003 aber Arbeiten des in Vergessenheit geratenen Pioniers für Computermusik Pietro Grossi. Grossi, eine zentrale Gestalt der Nachkriegsavantgarde, ludt als erster John Cage nach Italien ein und entwickelte einen entgrenzten, auf Computeralgorithmen basierenden Kunst- und Musikbegriff.

 

Das war der Startschuss für eine Arbeit, die viel Fingerspitzengefühl und Ausdauer verlangt: Urheber- und Veröffentlichungsrechte müssen recherchiert und verhandelt, die Originalaufnahmen teilweise überhaupt erst gefunden werden. In naher Zukunft wollen Stucchi und Carboni die Arbeit des Mailänder Studios systematisch erschließen und sukzessive (wieder-) veröffentlichen. Neben der elektroakustischen Musik der späten 50er bis 70er Jahre bringt Die Schachtel aber auch die Improvisationsszene der 60er-Jahre zurück ins kulturelle Gedächtnis. Eine besonders wichtige Veröffentlichung ist die Fünf-LP-Box »Azioni/Reazioni« (2017) mit Arbeiten der Gruppo Di Improvisazzione Nuova Consonanza. Das zu Beginn des Jahrzehnts in Rom von Franco Evangelisti gegründete Komponisten-Performer-Ensemble verpflichtete sich einem radikalen Musikbegriff, die Aufnahmen hören sich tatsächlich abenteuerlich an. Zu ihren Mitgliedern zählten zeitweilig auch die später berühmten Filmmusik-Komponisten Ennio Morricone und Egisto Macchi, Morricone etwa spielte auf den Aufnahmen Trompete. Ein drittes Standbein des Labels sind die experimentellen Außenseiterpositionen der italienischen Progressive-Rock-Szene. Das Reissue etwa des 1977er-Albums »Dialoghi Del Presente« von Luciano Cilio entwickelte sich zum Bestseller, jüngst ist die fünfte Auflage herausgekommen. Der depressiv-experimentelle Folk des bereits mit 33 Jahren durch Suizid verstorbenen Cilio hat so ein erstaunliches Nachleben entwickelt. Eine Renaissance zu Lebzeiten erlebt dagegen Lino Capra Vaccina. Der heute weit über 70-jährige Vaccina, ursprünglich aus der Progrock-Szene stammend (Aktuala), wurde dank der Wiederveröffentlichung seiner 1978 geschriebenen New-Age-Komposition »Antico Adagio« vor zwei Jahren auf dem Brüsseler Kraak-Festival gefeiert.

 

Stucchi nennt sein Label ein »ideales Unternehmen« — er könne sich mit dem Produkt identifizieren, habe durch seine eigene Herkunft einen direkten Bezug zum Ort, kenne sich mit den Besonderheiten und Gepflogenheiten der Protagonisten und Geschäftspartner aus, und ist dadurch anders emotional involviert und zufriedener mit der Arbeit. Sein kosmopolitischer Lokalismus hat nichts mit dem aggressiven Regionalismus der Rechten zu tun, die das Land mit ihrem Unabhängigkeitsforderungen entsolidarisieren wollen.

 

Info: dieschachtel.com