Demokratie verstehen: »Aggregat« von Marie Wilke

Land der Brüche und Teilungen

Das Internationale Frauenfilmfestival Köln/Dortmund blickt in seinem Länderschwerpunkt auf Deutschland

Die frühen 90er Jahre, Sommer, eine S-Bahn rattert durch Berlin. Durch die Fenster fällt der Blick auf Brachen und Gebäude in desolatem Zustand, die Station Hackescher Markt trägt noch den Namen Marx-Engels-Platz. Für ihren Film »Former East/Former West« hat die US-amerikanische Filmemacherin Shelly Silver kurz nach der Wiedervereinigung die Leute auf den Straßen der neuen alten Hauptstadt nach ideologisch aufgeladenen Begriffen befragt: »Heimat«, »Volk«, »Nationalität«. Was bedeutet es deutsch zu sein? Manche überlegen lange, andere kommen sofort ins Reden: über die Wende, die ehemalige DDR, die Ausländer. Über den Grundgedanken einer kulturanthropologischen Bestandsaufnahme nähert sich »Former East/Former West« (1994) seinem komplexen Thema an.

 

Die Herangehensweise teilt der Film mit vielen Anderen im rund hundert Beiträge umfassenden Programm des Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund/Köln, das in seiner 35. Ausgabe in Köln stattfindet. Neben dem internationalen Wettbewerb für Regiedebütantinnen und einer Reihe für das queere Kino gibt es dort den großen Länderschwerpunkt, der in diesem Jahr den Blick gewissermaßen nach innen richtet. Freiere Formen dominieren die Sektion unter dem Titel »Über Deutschland«, visuelle Essays und fragmentarische Materialsammlungen. Sie spiegeln den Zustand eines Landes, dessen Historie sich aus einer langen Abfolge von Brüchen und Teilungen ergibt.

 

Im Programm vertreten ist zum Beispiel Marie Wilkes Dokumentarfilm »Aggregat«, der im Februar bei der Berlinale seine Premiere feierte. Nüchternen Blickes beschäftigt sich die Regisseurin darin mit der Frage, wie Demokratie funktioniert, wie Politik und Medien sich zueinander verhalten und das Empfinden der Bürger bestimmen. Ohne jeden Kommentar dokumentiert Wilke eine Publikumsführung durch den Bundestag und Demonstrationen der Pegida, Gesprächsabende der sächsischen SPD oder Redaktionskonferenzen bei taz und Bild. Harte Schnitte und Schwarzblenden unterstreichen den bruchstückhaften Charakter ihrer Beobachtungen. Die Sorgen, die Ressentiments und Aggressionen der Gefilmten von 2018 ähneln dabei auf erschreckende Art und Weise jenen von 1994. Wenn das mit »den Ausländern« so weitergehe, beschwert sich ein älterer Herr in »Former East/Former West«, gebe es in zehn Jahren keine Deutschen mehr. Der Satz könnte auch einer der Reden gegen Medien und Politik von Lutz Bachmann entstammen, die zahllose grimmige Zuhörer in »Aggregat« mit »Lügenpresse«- und »Volksverräter«-Rufen begleiten.

 

Kurzfilme des »Tribunals NSU-Komplex auflösen« konfrontieren die Zuschauer mit ähnlich befremdlichen Szenen. Die Clips des Aktionsbündnisses sind einer von Youtube und Co geprägten Aufmerksamkeitsspanne angepasst, widmen sich in jeweils bis zu dreiminütigen Spots den schwarzen Flecken in der Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds. Gerade weil diese Form Experimente zulässt, entfalten die Spots — zehn davon werden im Rahmen des IFFF gezeigt — eine besondere Intensität: etwa wenn die Filmemacher in sprunghaften Montagen offenlegen, wie Episoden der TV-Gerichtsshow »Alexander Hold« Klischees über die sogenannten »Dönermorde« reproduzieren, oder wenn sie die Blindheit gegenüber rechtem Terror verurteilen, indem sie Parallelen zum 1980er Oktoberfest-attentat ziehen und dabei so nah an die Zeitungsfotos von damals heranzoomen, dass die einzelnen Farbpunkte sichtbar werden.

 

Der Deutschlandfokus des Frauenfilmfestivals kultiviert den kritischen Blick auf das Eigene, versucht, den Status quo des Landes in größeren zeitlichen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen auszuloten. Wenn der Unbedarftheit der Ermittler in den NSU-Spots, der Wut der »besorgten Bürger« in »Aggregat«, den nach Worten ringenden Berlinern in »Former East/Former West« etwas gemein ist, dann wohl die tiefsitzende Unsicherheit gegenüber der eigenen Identität und Verantwortung.

 

Kulturelle Suchbewegungen beschreiben auch die Filme im Programm, deren Regisseurinnen aus einer migrantischen Perspektive heraus auf die deutsche Öffentlichkeit blicken. In »Passing Drama« (1999) schlüsselt die Videokünstlerin Angela Melitopoulos anhand der Augenzeugenberichte dreier Generationen die Geschichte europäischer Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts auf, erforscht Prozesse des Erinnerns und Vergessens. Anhand einer Recherche in ihrem persönlichen Archiv spürt Cana Bilir-Meier in »Semra Ertan« den Beweggründen der gleichnamigen türkischstämmigen Dichterin nach, die sich 1982 in Hamburg als Zeichen gegen den Rassismus in Brand steckte. Und in »My Camera Seems to Recognize People« lässt Belit Sağ ihre Digitalkamera mit eingeschalteter Gesichtserkennung über Porträts fahren und das Gerät so empatischer wirken als manchen abgestumpften Zeitungsleser.

 

Zum Glück stößt einen das filmische Stöbern in der deutschen Geschichte manchmal auch auf Episoden, die Hoffnung machen. So wie in »Pierburg. Ihr Kampf ist unser Kampf« von Edith Schmidt und David Wittenberg. Die Regisseure forschen dem Arbeitskampf von 1974 nach, in dem sich deutsche und migrantische Arbeiterinnen eines Neusser Automobilzulieferers solidarisierten. Gemeinsam gelang es ihnen die »Leichtlohngruppe II« (4,70 DM pro Stunde) abzuschaffen, in der nur Frauen beschäftigt waren.

 

frauenfilmfestival.eu