Denken im Dauerlauf

Die Philcologne ist das erfolgreichste Philosophie-Festival Deutschlands. Das liegt am eklektischen Programm — und daran, dass die auftretenden Philosophen über sich lachen können

Die Philcologne ist eine dieser Gelegenheiten, bei denen man alle trifft. Dem Toningenieur begegnet man beim französischen Philosophie-Nachwuchs-Star Tristan Garcia, der Stadtrevue-Autorin läuft man beim Vortrag des slovenischen Theorie-Schelms Slavoj Žižek über den Weg, und der Redaktionskollege besucht den Vortrag über Fake News am gleichen Ort, an dem der Autor dieses Textes kurz zuvor den Ausführungen des Soziologen Armin Nassehi zur Politik des Identitätsbegriffs gelauscht hat. Meistens bekommt man bei diesen Treffen die Frage gestellt: »Gehst du noch woanders hin?« Die Antwort lautet: »Ja«. 

 

Wenn man will, können die sechs Tage Philcologne ein ziemlicher Dauerlauf werden. Das ist auch bei der sechsten Auflage, die Anfang Juni stattfindet, nicht anders. Am Montag diskutieren Ex-Außenminister Sigmar Gabriel und der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller über die Weltlage, am Dienstag geht’s um Erziehung, am Mittwoch um die Warengesellschaft, am Donnerstag um das Silicon Valley, Freitag wird über die Blockchain diskutiert, am Samstag spricht Pankaj Mishra über die Folgen des Kolonialismus. Zwischendrin gibt’s Marx, Nietzsche und die konservative Revolution. Sechs Tage Live-Feuilleton — ganz schön viel Stoff.

 

»Wir versuchen, die Vielfalt der Philosophie abzubilden«, sagt Wolfram Eilenberger. Der Philosophie-Journalist und Buchautor gehörte 2013 zum Gründungsteam der Philcologne. Damals war er Chefredakteur des frisch gegründeten Philosophie-Magazins. Die Organisatoren der Litcologne nahmen mit ihm Kontakt auf, um ein Philosophie-Festival auf die Beine zu stellen. »Wir wollten Menschen ansprechen, die sich auch für die Anwendung von Philosophie in der Politik und im Privatleben interessieren. Das hat mich auch journalistisch immer interessiert: philosophische Gedanken öffentlich zugänglich zu machen.« Heute ist Eilenberger Teil eines fünfköpfigen Programmteams, zu dem etwa auch die Journalisten Gerd Scobel und Svenja Flaßpöhler gehören.

 

Das Philcologne-Programm entsteht im Prozess. Das Team trifft sich mehrmals, dabei entstehen Ideen für Themen und potenzielle Gesprächspartner. »Wir bekommen sehr wenige Absagen«, berichtet Wolfram Eilendorfer. »Immer mehr Philosophierende haben ein Interesse daran, nicht nur an der Universität zu lehren, sondern auch in die Öffentlichkeit zu gehen.« Denn auf der Philcologne kann man einen neuen Typus des Intellektuellen besichtigen: Akademiker, die die Öffentlichkeit suchen, um dort ihre Überzeugungen und Gedanken zu präsentieren — aber dabei die Selbstironie nicht vergessen. Armin Nassehi ist so einer. Der Soziologieprofessor aus München »mit Gelsenkirchener Abitur« kann zu vielen Themen reden. Im Gespräch mit Eilenberger sprang er auf der letztjährigen Philcologne zwischen persönlicher und kollektiver Identität, der identitären Bewegung und den verschiedenen Minderheitenpolitiken an US-Colleges hin und her. Die hohe Bedeutung von Identität sei Ausdruck einer Krise, befand Nassehi. »Es geht darum, Komplexität zu reduzieren«, erklärte er und fügte hinzu: »Entschuldigung, ich bin halt Systemtheoretiker«. Kurzes Lachen im Saal — zumindest seine professionelle Identität hatte er mit der Aussage geklärt. Andere Gäste wiederum zeigen sich sentimental. Beim Wahlsieg von Emmanuel Macron bei den französischen Präsidentschaftswahlen sei er den Tränen nahe gewesen, gestand der Politologe Claus Leggewie im vergangenen Jahr während eines Abends zur Zukunft Europas. Die Aura des distanzierten Intellektuellen ist auf der Philcologne nur ein Identitätsmodell unter vielen.

 

Wenn Eilenberger von der Philcologne spricht, ist immer wieder von der »Philosophie als Kunst des Gesprächs« die Rede. Frontalvorträge sind selten auf der Philcologne. Oft bringt Eilenberger zwei Menschen ins Gespräch, aber genauso oft befragen er und das Moderatorenteam jemanden alleine. »Wir suchen Dissens, und da brauchen wir Menschen, die miteinander streiten können«, so Eilenberger. »Auch in der Philosophie gibt es Allergien. Da braucht man etwas Gespür.« Auch Eilenberger selbst sucht den Dissens. Im März veröffentlichte er einen Artikel in der Zeit, in der er der akademischen Philosophie vorwarf, zu spezialisiert zu sein und in ihrem Tun zu sehr
auf die Rankings des akademischen Betriebs zu achten. »So wie ich die Idee Philosophie verstehe, ist diese Entwicklung schädlich«, erläutert er. »Die deutsche Philosophie ist zwar extrem professionalisiert und finanziell gut ausgestattet. Aber was die Innovation angeht, hat sie schon
bessere Zeiten gesehen.«

 

Macht die Philcologne also wett, was die Universität nicht mehr leistet? Soweit will Eilenberger nicht gehen. »Wir sind nicht feindlich eingestellt. Wir machen Themen unter anderen Voraussetzungen ansprechbar, als dies vom akademischen Standpunkt aus der Fall wäre.« Ein Beispiel dafür ist der dänische Philosoph Vincent F. Hendricks, der dieses Jahr auf der Philcologne zu Gast ist. Lange war er Spezialist für Modallogik und beschäftigte sich mit Wissenschaftstheorie. Dann fragte ihn sein Sohn, was er eigentlich tue, und Hendricks begann, seine Fähigkeiten als Logiker auf die Erforschung von Falschmeldungen und die Effekte von Filterblasen zu übertragen. Auf der Philcologne versucht er, einen »Ausweg aus der Filterblase« zu skizzieren — Erkenntnistheorie für Jedermann. 

 

Die Auswirkungen des digitalen Kapitalismus und seiner Ideologie auf die Öffentlichkeit sind ein Schwerpunkt auf der diesjährigen Philcologne. Ein anderer liegt auf dem Erbe von Karl Marx, dessen 200. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Jürgen Neffe stellt seine gerade erschienene Marx-Biografie vor, Linken-Politiker Gregor Gysi will erklären, wo das marxsche Denken in der Gegenwart hilfreich sein kann. Auch er hat zufällig gerade ein Buch zum Thema veröffentlicht. Wie abhängig ist die Philcologne von der Verlagsbranche und ihren Zuschüssen zu Lesereisen? »Wir interessieren uns für neue Gedanken«, entgegnet Eilenberger. »Ein neues Buch ist im Idealfall ein neuer Gedanke.« Als internationales Festival sei die Philcologne jedoch vor allem dem Terminplan ihrer Gäste unterworfen: »Mal bekommt man jemanden in einem
Jahr, dann erst im nächsten Jahr.«

 

Ein Beispiel für so jemanden ist der französische Sozialforscher Luc Boltanski. Anfang der Nullerjahre hat er gemeinsam mit der Ökonomin Ève Chiapello »Der neue Geist des Kapitalismus« veröffentlicht, ein mit Statistiken und Umfragen gefülltes Buch darüber, wie der Kapitalismus die Sozial- und Kunstkritik der 68er und der Gegenkultur in schönere und authentischere Produkte umgewandelt hat. Sein neues Buch »Bereicherung — eine Kritik der Ware« setzt diesen Gedanken fort. Der zeitgenössische Kapitalismus zeichnet sich laut Boltanski dadurch aus, die Produktion von Waren aus den Zentren des Westens auszulagern, wo allerdings viel Energie in die Produktion der »feinen Unterschiede« investiert wird. Es ist ein Beitrag zur Theoriebildung der Linken, die über das Erbe der Gegenkultur der 60er gerade ebenso laut streitet wie über die korrekte Interpretation des »Kapitals« — ein Thema für Spezialisten, das potenziell viele interessieren könnte. »Die mediale Sphäre unterschätzt die Adressaten«, findet Wolfram Eilenberger. »Man denkt, dass die Menschen sehr viel niedere, flachere und dümmere Interessen haben, als dies der Fall ist.«