Hören, wie die Steine sich ausdehnen: Lucrecia Dalt, Foto: Regina de Miguel

Tektonik der Gefühle

Lucrecia Dalt hat mit »Anticlines« eines der vielschichtigsten Pop-Alben des Jahres veröffentlicht. Auf der c/o pop wird sie es vorstellen

Der Verfasser dieses Artikels hat von Geophysik keine Ahnung. Stein ist für ihn Stein, Erde Erde. Für diesen Artikel ist das keine optimale Voraussetzung. Denn die Protagonistin, Lucrecia Dalt, hat eine Menge Ahnung von dem Zeug. Und das Zeug, also Steine, Erde und wie sie geschichtet sind, spielt eine nicht unerhebliche Rolle für ihre Musik. Dalt hat Geophysik studiert. Sie hat unter anderem zwei Jahre damit verbracht, in 25 Meter tiefe Erdlöcher zu steigen und darin die Dinge zu tun, die Menschen, die sich mit Erdlöchern und alledem auskennen, eben in Erdlöchern tun.

 

»Anticlines« (RVNG INTL.) heißt ihr neuestes Album. Ihr sechstes. Einer der faszinierendsten Veröffentlichungen des Jahres bislang. Antiklinalen auf Deutsch. Eine Antiklinale, Oh Gott, ist wohl eine besondere Art von Bodenfalte, in der die älteste Gesteinsschicht in der Mitte liegt und manchmal irgendwie sichtbar werden kann. Fragen Sie jemand anderen! Entscheidend ist, dass das, was normalerweise am tiefsten liegt, an die Oberfläche gelangt. Denn dieses Phänomen beschreibt am besten den Sound der gebürtigen Kolumbianerin, die inzwischen in Berlin lebt.

 

Wer von Tektonik keine Ahnung hat, redet am besten über Gefühle, Gedanken, solche Sachen. Vielleicht redet auch Dalt ohnehin schon immer über beides. Sie habe hauptsächlich Sachen entworfen, die man nicht sieht, sagt sie über die Zeit, in der sie sich noch nicht hauptsächlich auf die Musik konzentrierte. Tunnel oder Fundamente zum Beispiel.

 

Auch ihre Musik ist, wenn man sie räumlich verorten wollen würde, nicht der springende Quell, der an der Oberfläche dem blauen Himmel entgegen sprudelt. Sie ist das Grummeln. Sie ist das, was darunter liegt. Ein Beben, ein Gurgeln. 

 

Ihre Musik war schon immer so. Aber noch nie so ausgeprägt wie auf ihrem neuen Album. Anfangs verlieh ihr Gesang den Songs noch etwas Leichtes; ein bisschen Singer-Songwritertum gesellte sich damals zu ihrer immer schon unkonventionellen Musik. Die Gesänge wichen Stück für Stück. Erdrückt vom Bass. Die Stimme irgendwo unter den Schichten des Sounds. Auf dem 2015er Album »ou« war sie schließlich beinahe komplett verschluckt. Kunstinstallations-Drone. Konsequent tieffrequent. Ganze 16 Wörter gibt sie auf dem Album von sich. 

 

Während die vorangegangen Alben den Anschein machten, als würde Dalt versuchen, immer weiter das nach außen zu pellen, was im Inneren lag, schien sie mit »ou« ganz zurück in die Tiefe zu sinken. Dunkler Raum, der ein unbekanntes Objekt umspielt. Es ist spürbar da, ohne dass man es sehen kann.

 

»Anticlines« nun klingt, als könne man es fast ertasten. Als bräuchte man weder Geophysiker noch Philosoph zu sein, um eine Ahnung dafür zu kriegen, was da ist. Was da immer war in der Mitte dieses Sounds. Es wirkt nun, als würde sich alles um dieses Objekt herum konzentrieren. Die Störgeräusche, das Sphärische — alles -aufgeräumt. Und: die Stimme ist zurück. Allerdings singt sie nicht mehr. Sie spricht, sie dichtet.

 

Im ersten Stück träumt sie davon, Atem zu sein und einen Körper ganz auszufüllen, der keine Organe mehr hat, ihrer entledigt ist. Nur aus Haut und Knochen besteht. Dennoch lebt. Auf dem dritten Stück findet sie »walls made up of air«, an denen sie sich nicht stößt, nicht reibt, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen kann, denn »we could never locate a skin or boun-dary«. »There just ain’t nothing to be press or be pressed by.«

 

Der Atem bleibt das Leitmotiv, das die Themen um Natur(-wissenschaft), Technik, Metaphysik und Philosophie zusammenhält. Wager Atem in einem indifferenten Universum. Der Song »Glass Brain« verweist auf das Boltzmann-Brain-Paradox. Wieder sehr grob zusammengefasst besagt dieses, dass die wissenschaftliche Annahme, wir könnten dem trauen, was wir beobachten, zu der Schlussfolgerung führt, dass wir dem nicht trauen können, was wir beobachten. Etwas unangenehm. Die Stimme sehnt sich nicht danach, das Paradox zu lösen. Eine klare Antwort zu finden. Sie träumt davon, ein Atemfluss zu sein, der alles durchdringt, der Widerspruch ist. Ob er darin existiert oder nicht, das ist ja dann auch egal.

 

»Let our limits be smudges, let our convictions be gaseous and vague«. Diesen Wunsch äußert die Stimme auf »Tar«. Was kann es einen besseren Wunsch geben in einer Zeit, in der Meinungen, vermeintliche Wahrheiten, Ideologien, den Raum für Fragen fast gänzlich zugeschüttet haben. Vielleicht war das unsichtbare Objekt im Zentrum von Dalts Musik die ganze Zeit das: die Frage selbst. Eine Frage, gänzlich unrhetorisch. Und deshalb nie endgültig greifbar, weil sie die Antwort noch nicht mitdenkt. Der Mut, im Dunkel zu tapsen.

 

Der muss es sein, der Dalts Musik so fesselnd macht. Eine Ode an die Ahnungslosigkeit. So war diese dann doch die optimale Voraussetzung für den vorliegenden Artikel.

 

 

 

StadtRevue präsentiert

 

Konzert: Sa 1.9., Funkhaus Wallrafplatz, 21 Uhr, zusammen mit Jenny Hval

 

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