Fühlt sich befreit: Nenad M. nach dem Urteil, Foto: Manfred Wegener

Fatale Fürsorge

Nenad M. musste auf die Sonderschule, obwohl er dort dramatisch unterfordert war. Nun muss ihm das Land NRW Schadensersatz zahlen

Nenad M. reagiert im ersten Moment verhalten. Gerade hat der Richter am Landgericht Köln verkündet, dass dem 21-Jährigen aus Höhenhaus Unrecht geschehen ist. Elf Jahre hatte er eine Förderschule für geistige Entwicklung besucht. Mehrfach hatte Nenad M. vergeblich um einen Schulwechsel gebeten. Erst nachdem sich der Elternverein Mittendrin für ihn eingesetzt hatte, konnte er 2014 auf ein Berufskolleg wechseln. Dort machte er seinen Hauptschulabschluss — mit einem Notendurchschnitt von 1,6. 

 

Es ist offensichtlich, dass in Nenads Fall etwas falsch gelaufen ist. Dennoch kommt das Urteil überraschend. Es muss gravierende Gründe geben, bis ein Gericht einer Behörde eine »Amtspflichtverletzung« attestiert. Doch Nenads Geschichte ließ keinen anderen Schluss zu. Den Lehrern hätte auffallen müssen, dass der Förderbedarf geistige Entwicklung auf den Schüler nicht mehr zutraf, so der Richter. Das Land NRW muss nun Schadensersatz zahlen. Die Höhe wird erst festgelegt, wenn das Urteil rechtskräftig wird — wenn das Land NRW auf die Berufung verzichtet oder das Urteil durch das Oberlandesgericht bestätigt wird. 

 

Nenad M. ist in Köln geboren, seine Eltern waren in den 90er Jahren aus Serbien geflohen. Als die Familie für einige Jahre in Bayern lebte, wurde dem damals siebenjährigen Nenad bei einem Test an einer Grundschule ein IQ von 59 bescheinigt: geistig behindert. Nenad verstand damals nicht, was mit ihm passierte, weder er noch seine Eltern sprachen Deutsch. Als die Familie zurück nach Köln zog, kam Nenad M. auf die Förderschule Auf dem Sandberg in Poll. Dort hätte der Förderbedarf jährlich überprüft werden müssen, doch dies ist offenbar nie ernsthaft geschehen.

 

Es wäre leicht erkennbar gewesen, dass er nicht auf die Sonderschule gehörte: Er dolmetschte für seine Mutter und bat mehrmals darum, die Schule wechseln zu dürfen. Mit knapp 18 ließ er auf eigene Faust einen neuen Intelligenztest machen. Ergebnis: 94 Punkte, Durchschnitt also.

 

»Ein Kind mit einem IQ von 59 kann weder dolmetschen noch zum Schulleiter gehen und um einen Schulwechsel bitten«, sagte im Juni die Sachverständige Irmtraud Schnell vor Gericht. Schnell präsentierte dem Richter Zeugnisse von Nenad, die zum Teil wortgleiche Sätze enthielten. »Da wurde schematisch vorgegangen. Individuelle Förderung sieht anders aus.« 

 

Die Schule indes gab an, man habe Nenad aus Gründen der Fürsorge auf der Schule behalten. Auf der Regelschule wäre er womöglich schädlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. »Das Schutz-Argument ist in der Sonderpädagogik sehr verbreitet. Aber es gibt auch das Recht auf Bildung«, sagt Eva-Maria Thoms von »Mittendrin«. Sie beteuert, Nenad sei kein Einzelfall. Oft ähnelten sich die Schicksale: »Es sind überwiegend Fälle, in denen die Eltern nicht begreifen, was vor sich geht, weil sie die Sprache nicht verstehen oder sie falsch informiert werden.«

 

In einer Reaktion auf das Urteil verwies das NRW-Schulministerium darauf, dass Eltern seit 2014 die Wahl haben, ob sie ihr Kind in eine Regel- oder eine Förderschule schicken. Dies solle verhindern, dass sich ein Fall wie der von Nenad wiederhole. Eva-Maria Thoms macht das wütend: »Man kann das Fehlverhalten des Apparats doch nicht auf die Eltern abwälzen! Die falschen Diagnosen betreffen oft ja gerade jene Kinder, deren Eltern sich am wenigsten wehren können.« Sie fordert, dass Sonderschulen durch unabhängige Gutachter überprüft werden, damit Schüler mit falschen Diagnosen nicht länger auf den Schulen verharren müssen. 

 

Nenad M. jobbt heute in einem Supermarkt, er möchte eine Ausbildung im Einzelhandel machen. Auf den Medienrummel nach dem Urteil reagiert er zurückhaltend. Zu lange klebte das Etikett der geistigen Behinderung an ihm, noch immer fürchtet er, deshalb auf Ablehnung zu stoßen. Doch er hat ein Urteil erkämpft, das ohne Beispiel ist. Wenige Stunden später dringt dann doch die Freude darüber durch. Nenad sagt: »Ich fühle mich befreit.«