Mit dem Anstandsrest den Berg hinauf

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 199

Es heißt, was nicht zu ändern sei, solle man lieben lernen. Danke für den Tipp, ich ahne, was gemeint ist. Sisyphos pfeift sich ein lustiges Liedchen, während er jeden Morgen seinen Stein den Berg hinaufrollt. Ohne diesen Stein wäre sein Leben leichter, aber nun liebt er diesen Stein. Liebe, das ist ein großes Wort. Ich finde, es reicht, dass man das, was man leider nicht ändern kann, niedlich findet. Wenn man etwas niedlich findet, halten sich Zuneigung und Distanz, halten sich Demut und Selbstachtung die Waage. Niedlichfinden ist die letztmögliche Rettung, um nicht völlig auszuflippen. Vergesst Achtsamkeit, schreibt Ratgeber zum Thema Niedlichfinden

 

Aber der beste Ratgeber ist irgendwann überfragt: Gesine Stabroth hat eine Angewohnheit, die niedlich zu finden, einem alles abverlangt. Gesine Stabroth lässt immer einen Rest übrig, vom
Essen, vom Trinken, überhaupt. Sicher haben Psychologen eine Bezeichnung dafür, Gesine Stabroth nennt es »Anstandsrest«. Keine Kaffeetasse, die ich abräume, in der es nicht noch schwappte. Kein Teller, auf dem nicht noch ein Rest läge, damit ich ihn mir beim Abräumen auf die frisch gebügelte Hose kippen kann. Beim Abtragen der Reste denke ich, dass dieser Rest Käsekuchen und jener Stoß Jasmintee das sind, was für Sisyphos der Stein ist. 

 

Früher galt der Anstandsrest als vornehm, er war Ausweis von Contenance. Der Rest auf dem Teller zeigte an, dass sich da jemand allen lukullischen Verlockungen zum Trotz beherrschen konnte. Nun freue ich mich über Besuch, der sich beherrschen kann: wenn sich Gäste verkneifen, mein Sofa auszulachen oder die Wandfarbe meines Flurs als Ausdruck einer seelischen Erschütterung zu deuten; Rosa war halt im Angebot damals. Unbeherrschte hat niemand gern zu Gast. Allein, man freut sich aber auch über Besuch, der Tassen und Teller so hinterlässt, dass man nicht immer noch etwas in den Abfall oder Ausguss geben muss. Ich glaube nicht, dass Gesine Stabroth eine Käsekuchenrand-Allergie hat. 

 

Der Anstandsrest ist heute selbst Rest in einem höheren Sinne, nämlich das Überbleibsel eines bizarren aristokratischen Zere-moniells. Nichtsdestotrotz ist er weit verbreitet. 

 

Wenn ich Atze und Pit, die immer mit ihren Hunden vor Trinkhalle Hirmsel herumsitzen, sage, dass es reaktionär sei, Bierflaschen nicht vollständig auszutrinken, pflichten sie mir bei. Atze und Pit sagen, dass sie mal jemanden kannten, der sich weigerte, für seine Partygäste nachts an der Tanke Biernachschub zu holen, wenn sich in den abgestellten Flaschen der Gäste noch Stöße fanden. Alle mussten das dann erst austrinken. Heute soll der Typ angeblich als Erzieher arbeiten. 

 

Darf ein Anstandsrest eigentlich sehr groß sein? Bei Trinkhalle Hirmsel gibt es neuerdings auch einen Business Lunch. Aber niemand, der noch irgendetwas schmeckt, konnte je die »Bockwurst Bowl mit Pulled Pork« aufessen. Und so ist das, was zurückgeht, annähernd so groß wie die Portion selbst. Es ist der größtmögliche Anstandsrest, aber eigentlich eine Überlebensstrategie. Erstaunlicherweise würgte sich ausgerechnet Gesine Stabroth alles rein. Nein, es sei nicht lecker, aber sie könne unmöglich so viel zurückgehenlassen, das gehöre sich nicht. Ich wollte sie zur etikettegemäßen Dosierung von Anstandsresten befragen. Aber wir mussten sehr stark kauen und konnten nicht reden. »So still? Na, euch schmecket aber«, meinte Herr Hirmsel. Und schließlich triumphierend: »Nur noch ein Anstandsrest ist übriggeblieben.« Gesine Stabroth sagte, sie fände Herrn Hirmsel irgendwie niedlich.