Fridas Sommer

Carla Simón erzählt in ihrem beeindruckenden Debüt ganz aus der Perspektive eines Kindes

Die Welt wächst ihr über den Kopf. In den ersten Minuten von »Fridas Sommer« schwenkt die Kamera immer wieder vom Köpfchen des kleinen Mädchens zur Welt da draußen: zu einem Feuerwerk am Himmel, wenig später zu umherlaufenden Erwachsenen in einer Wohnung voller gepackter Kisten. Die Welt da draußen ist in Aufruhr, aber Frida mit ihren vielleicht vier Jahren noch nicht ganz Teil von ihr. So bleibt ihr nichts übrig, als aus der stillen Distanz zu beobachten, und wir warten geduldig mit, auf dass sich wenigstens uns bald dieses Durcheinander erschließen möge. 

 

Die katalanische Regisseurin Carla Simón verschreibt sich in ihrem beeindruckenden Langfilmdebüt der Perspektive ihrer Protagonistin, die Kamera von Santiago Racaj bleibt konsequent auf Kinderhöhe. Und so schält sich das, was man gemeinhin Plot nennt, erst ganz allmählich heraus: Fridas Mutter ist gestorben, und das kleine Mädchen zieht von Barcelona aufs Land, zu Onkel und Tante und ihrer jüngeren Cousine Anna, die schnell verstanden hat. »Du bist jetzt meine Schwester«, sagt sie, nicht ohne Stolz und Freude. 

 

Die Außenwelt auf dem Land ist das Gegenteil der unruhigen Anfangsszenen: ein weitläufiges Grundstück, viel Licht, viel Natur, viel zum Entdecken. Frida packt also die Puppen aus, richtet die eigene Kinderwelt in der neuen Erwachsenenwelt ein, erklärt Anna stolz, welche Puppe sie einst von wem geschenkt bekommen hat. Die Puppenstube ist keine Weltflucht, sondern letztes Band ans alte Leben. »Du darfst sie nicht anfassen«, befiehlt sie. Frida, das wird Anna bald erfahren, kann auch eine leise Tyrannin sein. 

 

Schon der Originaltitel des Films »Estiu 1993« (übersetzt: »Sommer 1993«) deutet darauf hin, dass Simón, Jahrgang 1986, hier auch ihre eigene Kindheit erinnert. Dem haftet aber nichts Eitles an, die Beschwörung diffuser Erinnerungen übersetzt sich vielmehr in eine angenehm lose Struktur. Der Film besteht weniger aus einer Abfolge durchgeskripteter Szenen, die sich der Erzählzeit bemächtigen, als aus Vignetten, in denen Zeit vergeht. »Fridas Sommer« ist zwar kein sperriger Film, der Langeweile ausstellt, um sie erfahrbar zu machen, aber ein Film, der weiß, dass das Füllen von Zeit eine harte Aufgabe sein kann — vor allem für ein Kind. Man kann sich in dieser Zeit aber auch verlieren, etwa wenn das Baden mal wieder zu viel Spaß macht. In diesem Modus ist der tragische Tod der Mutter stets präsent, als ein Schatten im ansonsten so hellen katalanischen Sommer und als Motor von Fridas immer wieder unberechenbarem Verhalten. Aber dieser Tod überschattet niemals den ganzen Film, weil er dessen Kinderperspektive ja ohnehin übersteigt. 

 

Frida ist in einem sehr spezifischen Alter, in dem man schon genügend versteht, um in der eigenen Seele damit klarkommen zu müssen, aber noch nicht genügend, um Emotionen wirklich sprachlich artikulieren zu können. Und so verstehen auch wir diese filmische Welt erst allmählich, bekommen nur Ausschnitte mit, schnappen Sätze auf. So ist ja
auch Kino in der Regel am aufregendsten: wenn nicht erklärt wird, wenn es etwas zu entdecken gibt. Simóns Film wurde auf der Berlinale 2017 mit dem Preis für den besten Erstlingsfilm bedacht, nun bringt ihn der seinerseits äußerst entdeckungsfreudige Verleih Grandfilm in unsere Kinos. 

 

In einer Szene verkleidet sich Frida als »Mama« und spielt großes Theater. Mit Schminke und erwachsener Selbstgefälligkeit erklärt sie der kleinen Anna, sie könne sich jetzt nicht mit ihr beschäftigen. In dieser Eltern-Performance verbirgt sich der ganze Film: Die Tragik, dass die leibhaftige Mutter nur noch eine Rolle
ist, eine diffuse Erinnerung, wird von einer Tochter überspielt, in der gerade deshalb so viel Leben steckt, weil sie es noch nicht -vollends versteht.

 

 

 

Fridas Sommer (Estiu 1993) ES 2017,
R: Carla Simón, D: Laia Artigas, Paula Robles, Bruna Cusí, 97 Min. Start: 26.7.