»Ava«

Léa Mysius erzählt in ihrem Debüt eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte

Der Blick streift über die französische Atlantikküste, halbnackte Touristen stehen am Strand. Die Ironie aus »Die Ferien des Monsieur Hulot« schwingt in diesem tastenden, geradezu über die vielen Körper kriechenden Blick mit. Aber der Schweiß, die im Sonnenlicht zusammengekniffenen Augen und von sich gestreckten Gliedmaßen erinnern auch an die höllischen Wimmelbilder von Hieronymus Bosch. Die alptraumhafte Anmutung verstärkt sich, als sich ein riesiger schwarzer Hund seinen Weg zwischen den Menschen hindurch bahnt. Als böses Omen beugt er sich über ein Mädchen, das aus ihrem Dösen hochschreckt. Das ist Ava (Noée Abita): Eine 13-Jährige mit zerzausten Haaren und verwegenem Blick, die mit ihrem Sturkopf noch mehrfach unser Verständnis strapazieren wird. Wenn Ava zum Beispiel angesichts eines Schwerverletzten nicht einfällt, einen Arzt zu rufen, oder sie den riesigen schwarzen Hund seinem inzwischen aufgetauchten Besitzer stiehlt und in ihrem Zimmer versteckt.

 

Einen Film und seine Figuren auf Plausibilität hin abklopfen,  erübrigt sich aufgrund der mutigen, unkonventionellen Wildheit von »Ava«. Das Regiedebüt der Französin Léa Mysius, das 2017 in der Semaine de la Critique in Cannes zu sehen war, beginnt mit einer niederschmetternden Dia-gnose des Augenarztes: Avas Sicht wird sich von den Rändern her verengen wie eine sich langsam schließende Kamerablende, und nach einer Phase der Nachtblindheit wird sie ihr Augenlicht verlieren. Avas Mutter Maud (Laure Calamy) versucht mehr sich selbst als ihre Tochter mit der Aussicht auf einen unvergesslichen Sommer am Meer zu trösten. Aber Ava hat ihre eigenen Methoden mit der Diagnose umzugehen.

 

Der Film begleitet sie dabei und bildet nicht nur ihren Blick nach, sondern auch ihre anderen nun geschärften Sinne und Avas Weise, das Schicksal anzunehmen: Der meist enge Kamerawinkel imitiert ihr Sehfeld, die Bilder zeigen starke Kontraste, die dunkle Farben und Texturen in sattem Schwarz verschlucken. »Sonnenaufgang: 6.50 Uhr. Untergang: 20.58 Uhr. 14 Stunden und acht Minuten Tageslicht«, notiert Ava in ihrem Tagebuch. Je weniger sich Ava auf ihre Augen verlassen kann, zeigt der Film ihre Träume. Da erscheint Ava die kleine Schwester ohne Augen und die eigene Mutter aggressiv sexuell mit gespreizten Beinen auf dem Küchentisch. Nach und nach setzt sich aus diesen symbolischen Fragmenten die Weltsicht einer rebellischen Heranwachsenden zusammen, der erwachsen zu werden ebenso katastrophal vorkommt wie zu erblinden. In beiden Fällen geht der Blick für Abseitiges verloren, genau so wie die Freiheit, eigene Wege zu beschreiten.

 

Einen Verbündeten findet Ava nur im Besitzer des schwarzen Hundes: Juan (Juan Cano) ist wenig älter als sie und gehört zu den nicht weit vom Strand entfernt siedelnden Roma. Juan verankert den sonst traumwandlerischen Film und seinen rebellischen Geist in der Realität Frankreichs: Juan ist ein Außenseiter; weil die Polizei ihm auf den Fersen ist, kann er nicht zurück zu seiner Familie. Wenn er mit Ava auf einem gestohlenen Motorrad an der Küste entlangbraust, erinnern sie an das Paar aus dem Klassiker der senegalesischen Nouvelle-vague »Touki Bouki« (1973) von Djibril Diop Mambéty: Zwei Eigenbrötler, Grenzgänger, Herumtreiber, die aus ihrer aussichtslosen Wirklichkeit in ein imaginiertes Reich zweisamer Autonomie flüchten.

 

Ava F 2017, R: Léa Mysius, D: Noée Abita, Laure Calamy, Juan Cano, 105 Min.
Start: 27.9.