Polizisten auf der ehemaligen Autobahn bei Manheim, Foto: Matthias Jung

Leben an der Abbruchkante

Im Hambacher Forst spitzt sich die Lage zu. Im Oktober will der Energiekonzern RWE Bäume fällen, denn unter dem Wald liegt die Braunkohle. Während eine Kommission ­darüber berät, wie der Ausstieg aus der Kohle­energie zu schaffen ist, werden vor den Toren Kölns noch immer Dörfer umgesiedelt, Kirchen abgerissen, Wälder abgeholzt. Wie fühlt es sich an in einer Region, in der das Leben von der Braunkohle diktiert wird? Ein Besuch in Buir und Manheim

 

Die S-Bahnfahrt von Köln ins Gefahrengebiet dauert keine halbe Stunde. Dutzende Polizisten warten am Bahnsteig von Buir, einem Ortsteil von Kerpen mit 4000 Einwohnern. Sie lassen nur Menschen durch, die hier wohnen oder einen Presseausweis vorzeigen können. So müssen etwa 50 junge Menschen auf den Stufen der Bahnhofsunter-führung hocken, viele haben Schlafsäcke dabei, manche Transparente. Ruhig und erschöpft lassen sie über sich ergehen, dass Polizisten ihre Taschen durchsuchen.

 

Buir wurde im September zum »gefährlichen Ort« erklärt. »Jeder kann hier jederzeit von der Polizei angehalten und durchsucht werden, egal ob beim Edeka oder sonst-wo«, sagt Andreas Büttgen von der Bürgerinitiative Buirer für Buir. Er führt täglich Kamerateams durch den Wald, wo sich in diesen Wochen der Kampf zwischen RWE und Umweltschützern zuspitzt. Sechseinhalb Jahre lebten Aktivisten im Hambacher Forst, um Widerstand zu leisten gegen den Braunkohleabbau. In dieser Zeit schrumpfte der Wald um sie herum, der Tagebau rückte immer näher. Nur ein Zehntel des Waldes ist noch übrig, einst war er der größte im Rheinland. Im Oktober will RWE dem Rest zu Leibe rücken, den Eichen und Hainbuchen, den Fleder- und Haselmäusen. Die riesigen Schaufelradbagger sollen nicht zum Stillstand kommen. 

 

Andreas Büttgen stapft den Buirer Lärmschutzwall hinauf, der neben der Bahnstrecke verläuft. Von hier oben sieht er den Wald, die Dörfer Morschenich und Manheim, und den gigantischen Krater, der all das bald verschlucken wird. Nicht mehr zu sehen ist Etzweiler, das Dorf verschwand vor sieben Jahren. Am Horizont erhebt sich die Sophienhöhe, eine Abraumhalde, die das Klima in Buir bereits verändert habe, sagt Büttgen. »Zwischen der Eifel und der Sophienhöhe geht der Wind jetzt viel stärker durch, und wir haben weniger Regen.«  

 

Büttgen arbeitet bei einem Versicherungskonzern, er hat Frau und Kind. In seinem Leben deutete erst nichts darauf hin, dass er in den Braunkohlewiderstand gehen würde. Dann fiel der Entschluss, die Autobahn an den Ortsrand von Buir zu verlegen. Der Tagebau brauchte mehr Platz. Es gab zwar eine Bürgerbeteiligung, doch Büttgen erlebte sie als Farce. »Auf einer Bühne thronte die Bezirksregierung, rechts ein Block RWE-Anwälte, links ein Block Anwälte von Straßen-NRW, und ganz vorn ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen für die Bürger.« Jeder durfte zwei Minuten sprechen. Damit war die Sache erledigt, so schildert es Büttgen. Die Buirer klagten, das Gericht entschied gegen sie. Seit vier Jahren brausen die Autos nun direkt an Buir vorbei.

 

Büttgen konnte es erst nicht fassen. »Aber heute weiß ich, dass in diesem Land einfach nichts passieren darf, was den Tagebau aufhält.« Wenn das letzte Stück Wald fällt, bläst der Wind den Feinstaub aus dem Loch direkt nach Buir herüber. 

 

Aber auch so spürt man den Tagebau in Buir schon lange. Damit der Krater nicht mit Wasser vollläuft, muss das Grundwasser in der Umgebung bis auf 600 Meter Tiefe abgepumpt werden. In Buir gibt es tektonische Störzonen, Sprünge im Boden. Das Abpumpen machte die Sache schlimmer. In den vergangenen Jahren mussten mehrere Häuser abgerissen werden, weil sie Risse hatten und nicht mehr bewohnbar waren. Büttgen zeigt auf die brachliegende Grundstücke. »Das Abpumpen muss immer weiter gehen, auch wenn der Tagebau nicht mehr in Funktion ist. Sonst würden ganze Teile von Kerpen absacken und unter Wasser stehen.« 

 

Und dann ist da noch die Stimmung im Ort. Sie wird schlechter, je näher der Tagebau rückt. Über Braunkohle werde möglichst wenig geredet, um Streit zu vermeiden. Es arbeiten ja noch viele bei RWE. »Aber irgendwann kommt es hoch an der Kaffeetafel. Ganze Familien haben sich  darüber zerstritten.« Anfang September ging das Vereinsauto von Buirer für Buir in Flammen auf. 

 

Im Nachbarort Manheim öffnet Uwe Büsseler die Tür. Mit seiner Frau bewohnt er eine Doppelhaushälfte. Es ist das letzte Haus, das gebaut werden durfte, 2001 war das. Damals war schon lange klar, dass das Dorf dem Tagebau weichen muss. »Man weiß es, ja, aber man will es nicht wahrhaben.« Dann erlebte Büsseler, wie sich die Häuser um ihn herum leerten, die Rollos heruntergelassen wurden. Heute leben vielleicht noch dreißig Menschen hier. Es waren mal mehr als tausend. 

 

Büsseler und seiner Frau liefen Katzen zu, inzwischen kümmern sie sich um acht Tiere. »Wir wollten nie Haustiere haben, aber jetzt fragen wir uns, was nach unserem Umzug mit ihnen geschehen soll.« Drei wollen sie nach Manheim-neu mitnehmen, wenn sie nächstes Jahr umziehen. Bis da-hin muss das neue Haus fertig sein. Sobald man sein Haus an RWE verkauft hat, bleiben nur zwei Jahre für den Umzug. 

 

Seine Nachbarin, eine ältere Dame, sagte zu Büsseler, sie mache die Umsiedlung nicht mit. »So kam es dann auch. Sie ist vor wenigen Monaten gestorben.« Eine andere alte Manheimerin, die am Ortseingang lebt, ist gerade mitten im Umzug. Sie will nicht darüber sprechen. »Es regt sie zu sehr auf«, sagt ihr Sohn, der gerade zu Besuch ist. 

 

Insgesamt 53 Dörfer und Siedlungen sind in den Tagebauen des Rheinischen Braunkohlereviers verschwunden, die ersten vor 70 Jahren. In Manheim haben die Bagger schon die ersten Straßenzüge weggefegt. Auch im Haus neben den Büsselers waren die Leitungen bereits abgeklemmt, aber dann, Ende 2015, nahm man es plötzlich wieder ans Netz. Denn dann kamen die Flüchtlinge. 

 

Seither bringen sie wieder ein wenig Leben ins todgeweihte Dorf. Arabische Musik ertönt aus einem geöffneten Fenster, während gegenüber die Kühe des letzten Landwirts durch das Hoftor blöken. Freundlich grüßende Männer fahren auf dem Fahrrad durch die Straßen, Kinder spielen in Hauseingängen und verlassenen Vorgärten. Das Dorf, ein Abenteuerspielplatz. Neulich hat Büsseler seine Hintertür mit einer Eisenstange verrammelt, man hört von Plünderern. Nachts hört er Polizeihubschrauber kreisen, täglich fahren Kolonnen am Haus vorbei. »Ich bin froh, dass wenigstens die Flüchtlinge noch da sind«, sagt Büsseler.

 

In Manheim gab es fünf Kneipen, einen Supermarkt, Bäcker und Metzger. Im neuen Ort, nahe Kerpen, gibt es nichts davon. »Man denkt, das gibt‘s nur in China. Da wird für neue Staudämme alles umgewalzt. Aber es passiert auch hier, und die Menschen haben keine Wahl.« Wer nicht an RWE verkaufen will, der wird enteignet.

 

Büsseler hat sich Zeit gelassen mit der Umsiedlung. Er schaut die Straße hinunter. »Vielleicht habe ich auch gehofft, dass der Tagebau doch noch gestoppt wird.« Nirgendwo in Europa wird so viel Kohlendioxid in die Luft geblasen wie im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Köln, Düsseldorf und Aachen. In Berlin verhandelt die Kohlekommission darüber, wann und wie ein Ausstieg aus der Kohle zu schaffen wäre. Aber RWE will roden, unbedingt. Und die Landesregierung von NRW steht weiter fest an der Seite des Konzerns: Am 13. September ordnete sie an, die Baumhäuser im Hambacher Forst zu räumen.