Klassenverhältnisse im Hintergrund: Helene Hegemann, Foto: Urban Zintel

Keine Engel für Charlie

Helene Hegemann zeigt in ihrem neuen Roman das Nebeneinander von Reichtum und Armut in Deutschland

Helene Hegemanns Bestseller »Axolotl Roadkill« wurde 2010 zunächst von der Kritik gefeiert. Doch die damals 18-jährige Autorin und Filmemacherin erlebte einen heftigen Backlash. Plagiatsvorwürfe führten bald zur »Leipziger Erklärung«, in der Literaturgrößen wie Günter Grass der Debütantin die Leviten lasen. Man hatte damals das mehr als unangenehme Bild vor Augen, wie sie Hegemann die Ohren langzogen, weil die in ihren Texten Samplingtechniken verwendet hatte. 

 

Aber Hegemann hat den Shitstorm heil überstanden. Erst kürzlich feierte sie als Regisseurin einen großen Erfolg mit ihrer Verfilmung von, »Axolotol Overkill«. Hegemanns dritten Roman »Bungalow« kann man sich ebenfalls gut als Film vorstellen: als außergewöhnliches Drama, weil darin neben — den für deutsche Kinoproduktionen so typischen Themen — Pubertät, Familie und Beziehung auch Klassenverhältnisse vorkämen. 

 

Erzählerin Charlie erlebt eine Coming-Of-Age-Geschichte auf der Rasierklinge. In ihrer Siedlung wohnen Arme und Reiche — die einen hausen in Wohnsilos, die anderen residieren in Bungalows. Charlie lebt zusammen mit ihrer psychisch labilen, alkoholkranken Mutter in Sichtweite unerreichbarer Luxuswelten. Intensive Schilderungen des eigenen Elends liefern eine plausible Erklärung dafür, warum das Mädchen raus will aus dieser Nussschale voller unerfüllter Wünsche und schmutzigem Selbstmitleid, und zugleich dafür, weshalb sie die Mutter nie ganz abschütteln wird. Als Projektionsfläche für ein besseres Leben dienen Charlie die neuen Nachbarn Georg und Maria, in deren Bungalow und Alltag sie bald eintritt, als wäre sie eine Kinobesucherin, die in die Leinwand einsteigt, um Teil eines Hollywoodstreifens zu werden. Dabei fällt ihr auf, dass die Nachbarn auch nur Menschen sind — so wie Nachbarjunge Iskender und die Selbstmörder von nebenan. Aber was heißt »nur«? In Charlies Viertel gibt es gerade deshalb keine Engel, weil die Heldin selbst jede Nuance jener Auseinandersetzungen zu fühlen, zu erkennen und zu beschreiben vermag, die menschliche Gesellschaft ausmachen. Mal furchtbar konzentriert, mal irre fahrig. Aber immer klug, irgendwie sinnlich und unterhaltsam. Bis es knallt.

 

StadtRevue präsentiert: 29.11., Stadtgarten, 20.30 Uhr


Helene Hegemann: »Bungalow«, Hanser Berlin, 288 Seiten, 23 Euro