»Wahrhafte Zuneigung ist das Gegenteil von Kitsch«

Kore-eda Hirokazu über seinen Cannes-Gewinner »Shoplifters«,

Patchworkfamilien und die Arbeit mit Kindern

Das Thema Diebstahl zieht sich durch Ihren Film »Shoplifters«. Die Familienmitglieder, die im Mittelpunkt stehen, klauen nicht nur in Geschäften Lebensmittel, sie stehlen sich auf eine Art auch gegenseitig die Herzen.

 


Diese Analogie gefällt mir, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Für mich bedeutet der Titel natürlich auch, dass Mitglieder dieser Wahlfamilie »gestohlen« sind. 

 

 

Der Moment, in dem man erfährt, dass diese Familie zum Teil aus Menschen besteht, die gewissermaßen »zusammengeklaut« wurden, ist irritierend. Besonders weil sie diese Patchworkfamilie zuvor mit großer Sympathie und menschlicher Wärme zeigen.

 


Genau diese Ambivalenz hat mich interessiert. Sie sind sympathisch, zugleich begehen sie kleinere und größere Verbrechen. Dürfen wir uns ein Urteil über sie erlauben? Können wir sie trotz ihrer Taten lieben?

 

 

Sie sind bekannt für ihre sensiblen Familiendramen wie »Like Father, like Son« und »Unsere kleine Schwester«. Was fasziniert Sie an diesem Genre?

 


In den letzten Jahren habe ich mich bewusst mit -Themen auseinandergesetzt, die mich persönlich beschäftigen: mein Familienleben, meine Rolle als Vater. Es hatte viel damit zu tun, dass meine Eltern starben und ich selbst Vater wurde. Diese beiden drastischen Veränderungen in meinem Leben wollte ich als Filmemacher verarbeiten. Mit meinem vorletzten Film »Third Murder« habe ich aber angefangen, diese intime Perspektive wieder zu verlassen und den Horizont zu erweitern, wie ich es schon mit früheren Filmen wie »Nobody Knows« getan hatte. So auch in »Shoplifters«. Es geht nicht mehr nur um die Familie selbst, sondern auch darum, wie sie Teil der Gesellschaft ist und welche Reibungen sich dadurch ergeben.

 

 

Die japanischen Filme, die für gewöhnlich im Westen gezeigt werden und keine Genreproduktionen sind, spielen meist in der Mittelschicht. Sie zeigen dagegen Menschen aus ärmlichen Verhältnissen, die sonst kaum repräsentiert werden.

 


Es gibt durchaus aktuelle Filme, die in Japans Arbeiterschicht angesiedelt sind, aber sie sind sicher nicht so zahlreich. Die Familie in »Shoplifters« gehört nicht zu den Ärmsten der Armen, weil sie alles ihnen Mögliche tun, nicht abzusteigen, selbst wenn es illegal ist. Sie versuchen, weiter Teil der Gesellschaft und ihrer Community zu bleiben. Aber sobald ein Rädchen nicht mehr funktioniert, fallen sie durch das Raster.

 

 

Wie sehen Sie die reale Situation von Patchworkfamilien im heutigen Japan?

 


Eine solche Konstellation wie im Film hätte es zumindest sehr schwer. Aber diese Figuren haben schlicht keine andere Chance. Auch wenn Außenstehende einwenden könnten, dass sie nicht verwandt oder nur durch kriminelle Taten aneinandergeschweißt sind, sind für sie selbst die familiären Bande sehr wahrhaftig. Am Ende bleibt die Frage: Was ist stärker, Blutsbande oder die Empathie, die wir von denen erfahren, die wir als unsere Familie gewählt haben?

 

 

Liebe und Zuneigung behaupten sich hier gegen die schwierigsten Umständen. Dabei kippt der Film nie in Sozialkitsch. Wie machen Sie das?

 


Die jüngere Schwester arbeitet in einer Peepshow, ihre Beziehung zu den Klienten ist durch finanzielle Interessen geprägt. Eine fiktive Romanze — trotzdem sind authentische Gefühle im Spiel. Ähnlich ist es mit der Familie. Das Konstrukt an sich ist fake, die Empathie und Liebe zueinander sind trotzdem real. Auch in dieser Pseudofamilie gibt es wahrhaftige Zuneigung. Das ist das für mich das Gegenteil von Kitsch.

 

 

Diese Art, sehr offen Emotionen zu zeigen, ist aus westlicher Perspektive für japanische Filme eher ungewöhnlich. Sind wir bislang schlicht einem Klischee erlegen?

 


Es stimmt, ich offenbare in diesem Film die Gefühle der Figuren sehr viel direkter als in meinen bisherigen Filmen. Ich würde sonst nie eine Figur weinend zeigen wie hier. Aber ich wollte diese Gefühlsausbrüche im Film haben. Es ist mit Sicherheit mein bisher emotional ausdruckstärkster Film.

 

 

Viele Momente Ihres Films, vor allem mit den kleinen Kindern, wirken sehr authentisch und intim. Wie haben Sie mit ihnen gearbeitet, um diese Atmosphäre herzustellen?

 


Ich drehe seit »Nobody Knows« mit Kinderdarstellern. Ich gebe ihnen kein Drehbuch, sondern erkläre am Set die Szene und sage ihnen, worüber sie sich unterhalten sollen. Sie hören also erst kurz vorher, was sie dann wiederholen oder in ihren eigenen Worten wiedergeben. Kinder lieben diese spielerische Art. Und manchmal sage ich einen Teil des Dialogs auch nur den älteren Schauspielern, um eine spontane Reaktion von den Kindern zu bekommen. Einige Emotionen entstehen also tatsächlich durch die Dynamiken zwischen den Darstellern und sind nicht geschrieben.

 

 

Sie werden weltweit auf Filmfestivals gefeiert. Wie würden Sie Ihre Position in Ihrer Heimat beschreiben? 

 


Ich produziere meine Filme unabhängig. Das japanische Studiosystem erlaubt kaum Originalgeschichten, sie wollen nur adaptiertes Material. Und es kommt kaum vor, dass ein Regisseur sein eigenes Drehbuch schreibt oder seinen Film selbst schneidet, wie ich es tue. Die Regisseure, die wie ich oder Takeshi Kitano arbeiten, kann man an einer Hand abzählen. Umso wichtiger ist die Anerkennung außerhalb Japans.

 

 

 

 

Kore-eda Hirokazu

Kore-eda, Jahrgang 1962, begann in den frühen 90er Jahren als Regisseur für Fernsehdokumentationen. Für sein Spielfilmdebüt »Maborosi« (1995) wurde er beim Filmfestival Venedig mit dem Preis für den besten Erstling ausgezeichnet. Seine intimen Dramen wie »After Life« (1998), »Nobody Knows« (2004) oder »Like Father, Like Son« (2013) kommen regelmäßig auch in Deutschland ins Kino.