»Shoplifters«

Kore-eda Hirokazu fordert in seinem Meisterwerk enge Definitionen von Familie heraus

Bei der Arbeit schlüpft Aki in eine knappe Schulmädchenuniform und schäkert vor einer verspiegelten Glasscheibe freizügig mit Kunden, die sie nicht sehen kann. Solch eine Szene kommt einem aus Filmen bekannt vor, die sich mit der Verlorenheit von Einzelgängern im anonymen Großstadtdschungel befassen. »Shoplifters« zeichnet zwar das Bild einer kalten, indifferenten Gesellschaft, doch der Kern der Films, eine Familie, scheint intakt. Der Umgangston in Akis Verwandschaft ist rau, aber liebevoll. In einem winzigen Häuschen in Tokio leben unter prekären finanziellen Verhältnissen drei Generationen auf engstem Raum miteinander. Als die Familie auf der Straße ein kleines, verwahrlostes Mädchen findet, zögert sie trotzdem nicht lange, es zu sich zu nehmen.

 

Regisseur Kore-eda Hirokazu (siehe Interview S. 70) ist bekannt dafür, sich in seinen Filmen an den allzu engen Vorstellungen davon abzuarbeiten, was und wie eine japanische Familie zu sein hat. Er zeigt einmal mehr eine Handvoll Individuen, die sich nicht an von Tradition oder Turbokapitalismus vorgefertigte Lebensentwürfe und Tagesabläufe halten wollen. Dafür bekam er im Mai 2018 die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes verliehen.

 

Stets bleibt er mit seiner Kamera nah an den Figuren und oft auf Augenhöhe mit den Kindern. So erinnert er nicht nur thematisch, sondern auch formal an die Familiendramen des japanischen Altmeisters Ozu Yasujirô. Gilt die Aufmerksamkeit doch einmal den Erwachsenen — etwa der im September verstorbenen Kirin Kiki —, dann blicken wir in abgekämpfte Gesichter, müde Augen. Der Vater nimmt die Kinder mit, um im Supermarkt zu klauen, während die Mutter in einer Wäscherei schuftet. Beiläufig kündet der Smalltalk unter den Kolleginnen von deren Problemen. Man hilft sich untereinander und kann doch nichts dagegen ausrichten, wenn die Versäumnisse der oberen Etagen auf einen abgewälzt werden. Als das Unternehmen die Löhne nicht ausbezahlen kann, müssen die Angestellten untereinander ausmachen, wer von ihnen
kündigt.

 

Die Bösewichte in »Shoplifters« sind nicht die titelgebenden Diebe. Es sind gesichtslose Institutionen, allzu routiniert arbeitende Behörden, ausbeuterische Strukturen. Besonders deutlich wird das nach der vielleicht niederschmetterndsten unerwarteten Wendung des ganzen Kinojahres.

 

Shoplifters (Manbiki kazoku) J 2018, R: Kore-eda Hirokazu, D: Furankî Rîrî, Ando Sakura, Matsuoka Mayu, 121 Min.