Die Essensreste der 90er Jahre

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 204

Die Postkarte wird in diesen Tagen 150 Jahre alt. Das ist ein stolzes Alter. Sie hat einige Moden der Kommunikationstechnik kommen und gehen sehen; wer erinnert sich noch an Telegramm und Fax? Doch um den Ruf der Postkarte ist es nicht gut bestellt, denn sie ist nicht digital. So etwas ist heutzutage der Todesstoß. Postkarten erreichen mich nur noch von zwielichtigen Unternehmen, die mit »Highspeed-Volumen« handeln und es mir zum »Weihnachtsgeschenk« machen wollen, für »monatlich 19,95€«. 

 

Oft setze ich mich in meinen Schaukelstuhl, den ich eigens angeschafft habe, um darin bei einem Gläschen schwerem Port den alten Zeiten nachzuhängen. Damals, als mich noch private Korrespondenz per Postkarte erreichte. Man mag zur Nostalgie stehen, wie man will, im Bereich des Technischen ist sie Ausweis kluger Skepsis und einer präzisen Registratur der Verluste. Zugegeben, manch einer brachte nur Banales zu Papier (»Essen gut, Wetter könnte besser sein«). Andere schrieben wie im Rausch, bis die Buchstaben zu tanzen begannen und sich im wilden Ringelreigen um das Feld für die Anschrift wanden. Ich besitze Postkarten, über dessen Absender ich nur Vermutungen anstellen kann, weil wohl für Schlussformel und Name kein Platz mehr war. Für anderes ist hingegen immer noch Platz gewesen: Noch heute kann ich schnüffeln, was Gesine Stabroth in den 90er Jahren im Irland-Urlaub aß und trank — oder was auf dem Kneipentisch klebte, auf dem sie die Karte schrieb. Solche olfaktorischen Beigaben sind digital nicht zu haben. Die Digitalisierung hat keine Düfte.

 

Ich besitze zudem Karten, die mir wie ein Supplement zum Voynich-Manuskript vorkommen, so voll mit Dringlichkeit, überschäumendem Gefühl und Alkohol wurden sie abgefasst. Solche Rückschlüsse und Seelenschau sind im Digitalen kaum mehr möglich. Die Gefühlslage des Absenders lässt sich dort nur an der ungestümen Handhabung von Orthographie, Syntax und Semantik erahnen. (Je mehr Ausrufezeichen und Groß-buchstaben, desto verrückter sind die Leute.) Die Buchstaben aber sehen immer gleich aus, ob sie nun hastig oder nach reiflicher Über-legung aneinandergefügt sind. 

 

Das Verrückte an verrückten Postkarten ist der Aufwand, den die Verrücktheit erfordert. Wie schnell hat man Dummes elektronisch versendet! Man wird ja regelrecht dazu aufgefordert. Aber eine Postkarte zu kaufen, zu beschreiben, die Briefmarke abzuschlecken und aufzukleben und zum Briefkasten zu tragen, erfordert sehr viel Zeit. Es gäbe also Gelegenheiten genug, noch zu Sinnen zu kommen und sie nicht abzuschicken — oder eben doch.

 

Dem Empfinden juristischer Laien läuft es zuwider, dass Postkarten nicht dem Briefgeheimnis unter-liegen. Insofern ist jede Postkartenzustellung ein Offener Brief, der sich nicht nur an den Haushalt des Empfängers, sondern auch an den Postboten richtet. Ich kenne Menschen, die anzügliche Postkartenmotive aus dem Strandurlaub ohne Absender an Personen sendeten, um diese beim Briefträger in Verruf zu bringen (»Hier, für Deine Schmuddelbildchen-Sammlung! Gruß aus Benidorm!«). 

 

Viel Häme gibt es für Ansichtskarten. Es gehört zum guten Ton, mit den handelsüblichen Motiven nicht einverstanden zu sein. Jeder glaubt heute, besser fotografieren zu können. Die Fremdenverkehrsamt-Ästhetik mit Sehenswürdigkeiten und Stadtwappen ist als Sujet so schlecht beleumundet wie Jux-Karten mit Schimpansen im Anzug, die Zigarre rauchen oder auf dem Klo sitzen. Die Kritik lautet, dass solche Darstellungen gekünstelt und nicht glaubwürdig seien. Einerseits ist das richtig. Andererseits verbringen Menschen sehr viel Lebenszeit damit, einen Filter für ihre Foto-Posts auszuwählen oder sie fallen mit laszivem Blick von Aussichtsplattformen. Todesfälle beim Schreiben von Postkarten sind hingegen nicht überliefert.