Recherche als Abenteuer

Heinrich Miess hat ein Buch zu Gerhard Richters »48 Portraits« geschrieben. »Die Freiheit der Dinge« ist eine akribische Recherche im Geiste der fröhlichen Wissenschaft

 

Das Format misst 30 × 24 Zentimeter. Hardcover, gebunden. Der Schutzumschlag zeigt ein Kreisdiagramm, das mit farbigen Linien Verbindungen zwischen 48 Namen herstellt. Darunter: graues Leinen mit Prägeschrift. Streng, minimalistisch, schön. Beim Blättern durch die 224 Seiten deutet vieles auf ein wissenschaftliches Werk: klares Layout, Fußnoten, umfangreicher Anhang, Register. Dazu 360 Schwarzweiß-Abbildungen und: Texte. Viele Texte, nahezu aller Genres, primär, sekundär, tertiär, peripher, aber keineswegs von ungefähr.

 

Der Kölner Grafiker und Mitbetreiber des kjubh-Kunstvereins Heinrich Miess ist kein Wissenschaftler, aber jemand, der Wissen will. Und der nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Kunst und mit Gerhard Richter, für den er seit Ende der 80er Jahre als Lithograf arbeitet, selber sehr viel weiß. Zum Interview kommt er pünktlich, nimmt den Kaffee gerne an (schwarz), freut sich über die jüngste Reaktion auf sein Buch (Helge Malchow, per Email: »Lese gerade darin. Ein echter Hammer!«). Aber ich will jetzt wissen, wie das alles begann. 

 

»Mit der Kunst natürlich. Ich hatte als junger Mensch Bekanntschaft gehabt mit Klaus vom Bruch und Michael Krebber und war so in gewisse Kölner Kreise gekommen. Ich lernte Lithografie, mein Meister war sehr kunstsinnig und hat auch Künstler gefördert; an der Werkschule haben damals viele gelernte Lithografen studiert, nicht nur Abiturienten. Für meine Künstlerfreunde durfte ich immer Einladungskarten oder Plakate drucken, für ’nen Appel und ’nen Ei. Ich war besonders mit Michael Bussenius befreundet, der mit Dieter Gerlach die erste Szenekneipe gegründet hat, das Plenum an der Venloer Straße. Ich wohnte auf der anderen Rheinseite, aber es hat mich immer rüber gezogen in diese Szene. Bussenius hat auch gemalt,  eines seiner frühen Vorbilder war Gerhard Richter. Er malte Seestücke, in der Art wie -Richter. Den kannte man damals natürlich schon.«

 

 

Miess erzählt mitreißend, das Prinzip der produktiven Ausschweifung bestimmt auch sein Buch, in dem Quellenmaterial, Reflexionen und Autobiografisches — Freundschaften und Zusammenarbeit mit Künstlern, Reiseerlebnisse, Lektüren, Fotos — zusammenfinden. »Die Freiheit der Dinge« ist sein Opus Magnum, entstanden aus der langjährigen Zusammenarbeit und Gesprächen mit Richter und intensiver Beschäftigung vor allem mit einer Arbeit Richters. Der Untertitel seines Buches lautet: »Ergänzungen zu Gerhard Richters Werkserie  48 Portraits«. Der Gemäldezyklus, der sich heute im Museum Ludwig befindet, zählt zu Richters bekanntesten, auch umstrittensten Werken. Entstanden für den deutschen Pavillon der Biennale Venedig 1972, zeigt er 48 weiße, europäische und us-amerikanische Wissenschaftler, Philosophen, Komponisten und Literaten des
19. und 20. Jahrhunderts in vom Künstler festgelegter Anordnung. Richter malte die Bilder nach fotografischen Vorlagen aus Lexika, 48 gleiche Formate, alle in den berühmten richterlich-feinen Grautönen, die den Block seltsam homogen wirken und die Indivi-dualität der Dargestellten zurücktreten lassen. 

 

Unter den Porträtierten sind bekannte Größen wie Albert Einstein, Thomas Mann, Kafka, Strawinsky. Aber was weiß man über Paul A.M. Dirac, Bjørnstjerne Bjørnson, Patrick M.S. Blackett? Richter selber gab immer an, die Wahl sei eher dem Zufall geschuldet, er könne wenig dazu sagen. Heinrich Miess wollte der »rätselhaften Auswahl« auf die Spur kommen. Die Prämisse seines Buches lautet, wie Barbara Hess im Vorwort schreibt, dass das »künstlerische Abenteuer« der 48 Portraits weniger im Malakt selbst, sondern in der Wahl der Dargestellten lag. Bei Miess’ »Suche nach den untergründigen Ordnungen des Zyklus« geht es, kurz gesagt, um ein sinnstiftendes Beziehungscluster. Von allen 48 Persönlichkeiten weiß man, dass sie in ihrem jeweils eigenen Feld die Moderne beeinflusst haben, überraschend sind die vielen realen Querverbindungen, die Miess’ Materialien belegen. Viele verfolgten die Arbeit des anderen, nicht nur in der eigenen Disziplin, konkurrierten, pflegten Briefwechsel, enge Freundschaften. Ein gemeinsamer Nenner?

 

 

»Das ist schwierig. Abgesehen von den Physikern, die alle an der Vorbereitung der Atombombe gearbeitet haben und es hätten besser wissen müssen — von Einstein angefangen oder schon von Planck an. Der -Blackett schreibt das ja: Wir wollen die ersten sein. Ein Engländer. Dass das möglich ist, so eine Kettenre-aktion, das wussten die alle. Das ist auch so ein Aufschaukeln von einem Ehrgeiz, der im günstigsten Fall jungenhaft ist, immer in Richtung Stockholm. Nobelpreis!«

 

 

Von hier aus ließe sich über Zusammenhänge zwischen Physik und der Ästhetik der Moderne spekulieren, aber Miess zielt nicht auf eine Theorie. Seine Reflexionen sind konkret, voller Anekdoten, im besten Sinne radikal subjektiv und lassen den Leser am Leben und Denken eines unabhängigen Geistes teilhaben. In den Schilderungen seiner Begegnungen mit Gerhard Richter spürt man große Nähe, Nähe ohne Indiskretion. Wenn Miess seinen ersten Besuch im Atelier an der Brüsseler Straße schildert, zusammen mit den König-Brüdern und einigen Museumsdirektoren, um dort unter Verpflichtung zu strengster Geheimhaltung einen ersten Blick auf den kaum trockenen sogenannten Baader-Meinhof-Zyklus 18. Oktober zu werfen, ist das erhellend und komisch zugleich. Der Überkünstler wird geerdet. Man erfährt viel über die Kölner Kunstszene in diesem Buch, über Gerhard Richter und eines seiner zentralen Werke — und über Heinrich Miess. 15 Jahre Recherche, zwei Jahre Arbeit an dem Buch, war es die Sache Wert?

 

 

»Ich hab es immer als Abenteuer bezeichnet. Ich bin genauso intuitiv vorgegangen wie Richter die Leute ausgewählt hat. Also, richtige Charakterschweine sind nicht darunter. Das Ergebnis? Dass Richters Intuition stimmt. Und der Zufall ihr zuarbeitet. Die großen Kunstwerke werden nicht aus dem Ärmel geschüttelt. Ob das Ganze die Menschheit weiterbringt, das weiß ich nicht. Mich hat’s weitergebracht.«

 

 

Ob es auch das Museum Ludwig inspiriert? Bis 2016 hingen die 48 Portraits im großen Treppenhaus, derzeit lagern sie im Depot. Ganz schlecht für die Freiheit der Dinge!

 

 

Die Freiheit der Dinge. Ergänzungen zu Gerhard Richters Werkserie ,48 Portraits, Hrsg. v. Heinrich Miess, StrzeleckiBooks, Köln 2018, 224 S., 68 €.