Fotos: Marcel Wurm

Ich wollt’, ich hätt’ ein Huhn

Das Leben in der Stadt hat sich immer mehr von der Natur ­entfernt. Deshalb suchen wieder mehr Menschen den Kontakt zu Pflanzen und Tieren. Immer beliebter wird ausgerechnet ein althergebrachtes Nutztier

Wie sich das Verhältnis von Städtern zur Natur verändert hat, kann Jürgen Roußelli fast täglich beobachten. »Früher sind meine Hühner vor Kindern weggelaufen. Heute -laufen Kinder vor meinen Hühnern weg.« Dann lacht -Roußelli, auch wenn ihm nicht zum Lachen zumute ist. Roußelli ist Biobauer, er nennt sich sogar »Der Kölner Biobauer«. Die Einfahrt der ehemaligen Bahngärtnerei in Humboldt-Gremberg ziert ein großes Plakat mit seinem schwarz-weißen Konterfei, das er sich auch auf eine Basecap hat drucken lassen. Für den Landwirt Roußelli gilt der Spruch von Beruf und Berufung: Viele Jahre hat er Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen aus den umliegenden Stadtteilen wie Höhenheim-Vingst und Humboldt-Gremberg, in denen viele einkommensschwache Menschen wohnen, regelmäßig auf seinen Hof eingeladen. Noch heute bietet er naturpädagogische Führungen an, und wer sich Roußellis Hof anschauen möchte, kann jederzeit zwischen Treibhäusern mit Feldsalat und Chilipflanzen, dem Ziegenstall und Feldern mit Rosenkohl spazierengehen. Seit knapp vier Jahren macht Roußelli ein weiteres Angebot: Patenschaften für Hühner. Es gibt mehr Anfragen für Hühnerpatenschaften, als Roußelli gerecht werden kann. Und es werden immer mehr.

 

Das Leben von Menschen in Städten hat sich in den vergangenen Jahren stetig von der Natur entfernt. Grünflächen, Bäume und Pflanzen werden seltener, Kinder und Jugendliche wissen weniger über ihr Essen und woher es kommt. Oder, wie Roußellis Anekdote zeigt, ihnen ist die Natur sogar so fremd, dass sie Angst vor ihr haben. Kinder, die vor einem Huhn die Flucht ergreifen, als stünde ihnen ein wilder Tiger gegenüber. Bei nicht wenigen Städtern wächst gerade deshalb die Sehnsucht nach Natur. Das zeigt längst nicht nur die anhaltend absurd hohe Auflage der Zeitschrift Landlust. Ausgerechnet das Huhn, seit Jahrzehnten eines der konventionellsten Nutztiere, wird immer beliebter. 

 

Für den Biobauern Roußelli haben die Hühnerpatenschaften einen pragmatischen Grund. Er braucht den Mist der Hühner als Dünger für seinen biodynamischen Betrieb, mit dem Verkauf von Eiern finanziert er die Hühnerhaltung. Weil die Hennen im Laufe ihres Lebens aber immer weniger Eier legen, rechnen sie sich in ihrem dritten oder vierten Lebensjahr wirtschaftlich nicht mehr. Dann werden Hühner in der Regel geschlachtet. Roußelli aber will das nicht. »Mit der Patenschaft verdient sich das Huhn seine Rente«, sagt er. Den Stall mit den älteren Jahrgängen nennt er »Seniorinnenheim«. Wer Pate wird, darf sich eine Henne aussuchen, fangen und mit einem Fußring taufen. Danach bekommt man neben einem Erinnerungsfoto regelmäßig Eier. Und was für Menschen übernehmen die Obhut für ein Huhn in Humboldt-Gremberg? »Es gibt die Mädelsrunde mit Prosecco, für die das ein Event ist. Es gibt Firmenhühner. Es gibt Leute, die kommen vorgefahren, holen ihre Eier ab und wollen mit dem Huhn nichts weiter zu tun haben«, sagt Roußelli. »Und es gibt Veganer, die unsere Idee gut finden. Bei denen bleiben die Eier im Regal.«

 

Jenny Kreitz hat ähnliche Erfahrungen gemacht: »Die unterschiedlichsten Menschen wollen mittlerweile ein Huhn.« Kreitz wohnt östlich von Köln in Overath auf dem Land und bietet naturpädagogische Führung an. Seit einem Jahr betreibt sie »Leih dir ein Huhn«. Kreitz verleiht vier Hennen samt Stall und Futterautomat, und man bekommt eine Einführung von ihr. Wie leben die Tiere, die viele ihrer Kunden nur von Bildern auf Kartons kennen, in denen ein Ei durchschnittlich elf Cent kostet? Die Idee kam der 32-Jährigen, als ein Kind auf dem Bauernhof, auf dem Kreitz reitet, Eier aus dem Nest holen sollte. »Sie kam zurück und hat mich gefragt, warum die Eier denn warm seien«, sagt Kreitz. Seitdem hat Kreitz ihren Kunden, zu denen Kindergärten und Seniorenheime genauso zählen wie Ehemänner, die ihrer Frau ein ausgefallenes Geschenk machen wollen, viele Fragen zu Huhn und Ei beantwortet. Etwa, wenn vier Hühner nicht jeden Tag exakt vier Eier legen. »Dass es für Hühner eine große Anstrengung bedeutet, ein Ei zu produzieren, und dass sie das nicht jeden Tag können, muss ich immer wieder erklären«, erzählt Kreitz. Grundsätzlich seien Hühner keine anspruchsvollen Tiere. Hennen können problemlos in kleinen Gruppen ohne Hahn leben. Für eine Leihe aber gibt es eine Voraussetzung: Rasen unter freiem Himmel. »Das ist das Grundnahrungsmittel des Huhns«, sagt Kreitz. Ein Huhn pickt fast 3000-mal am Tag. Anfangs war sich auch Kreitz, die einen von nur zwei Hühner-Verleihen in Nordrhein-Westfalen betreibt, unsicher, wie die Tiere auf die wechselnde Umgebung reagieren würden. Ihre Sorge war unbegründet: »Die Hühner fühlen sich wohl, sie werden ja meistens auch ziemlich verwöhnt«, sagt Kreitz. Wenn das Huhn für vier Wochen der Star der Familie ist, stehen frisch gekochte Nudeln statt Körner auf dem Speiseplan. Gerade hat sie neue Ställe und Futterautomaten angeschafft, sodass sie nun gleichzeitig drei Teams mit jeweils vier Hennen verleihen kann. Bis weit ins Jahr hinein ist sie ausgebucht. »Das Interesse ist riesig«, sagt Kreitz. »Ich habe keine -Visitenkarten, ich mache keine Werbung.« Marketing für Hühner passiert am Gartenzaun.

 

So war es auch bei Ingo Schirrmacher. Seine Kinder haben für einige Tage auf Hühner in der Nachbarschaft aufgepasst. Nun hält die fünfköpfige Familie schon seit einem halben Jahr drei Hühner: Natascha, Pepper und Gamorra leben im Garten des Reihenhauses in Niehl, den Hühnerstall hat die Familie selbst gebaut. »Für uns als Familie ist das ein tolles Projekt«, sagt Schirrmacher. Man habe sich gemeinsam über natürliche Feinde, artgerechte Haltung und Fütterung informiert. »Und ich hatte das erste Mal Maschendrahtzaun in der Hand«, sagt Schirrmacher. Seine drei Kinder misten den Stall aus und füttern die Tiere, am Kühlschrank hängt eine Liste, wer wann was zu tun hat. »Hühner sind im Vergleich zu anderen Tieren sicherlich pflegeleicht«, sagt Schirrmacher. »Aber sie machen auch Arbeit.« Der Ertrag lasse bei den Jungtieren auf sich warten: Noch haben die drei Hennen nicht begonnen, Eier zu legen. Darum gehe es seiner Familie aber ohnehin nicht, sagt Ingo Schirrmacher. »Ich kann das nur jedem empfehlen«, sagt er über seine »Nutzhaustiere«. Im Hintergrund laufen zwei seiner Kinder durch den Garten. Sie tragen jeweils ein Huhn auf dem Arm.