Souveräne Selbstentblößung: Eva Collé in »Searching Eva«

Authentische Inszenierung

Einige der interessantesten Beiträge auf der 69. Berlinale kamen aus Köln

 

War da was? Die 69. Berlinale bot business as usual: Die Kritiker regten sich über einen bloß mäßigen Wettbewerb auf, aber die mehr als 300.000 Zuschauer kümmerte es wenig, und die deutsche Branche feierte sich trotz desaströser Besucherzahlen der Kinos im Jahr 2018. Die letzte Berlinale unter der Leitung von Dieter Kosslick zog vorüber wie ein laues Lüftchen.

 

Ein mit 17 Filmen nicht gerade üppig besetzter Wettbewerb, der nicht viele bekannte Namen bot, wurde noch einmal kleiner, da ausgerechnet der Film des vielleicht renommiertesten Regisseurs der Auswahl zurückgezogen wurde – und zwar, nachdem das Festival bereits begonnen hatte: Zhang Yimou (»Rotes Kornfeld«), der Berlinale-Gewinner von 1988, erklärte, es habe Probleme bei der Postproduktion seines Films gegeben. Da »One Second« von einem Mann handelt, der während der chinesischen Kulturrevolution aus der Haft flieht, wurde gemutmaßt, dass es eher politische Gründe seien, weswegen der Film in Berlin nicht zu sehen war. Warum konnte dann aber Wang Xiaoshuais »So Long, My Son« im Wettbewerb laufen? Ein Familiendrama, das ebenfalls die Kulturrevolution streift und von der bisweilen brutalen Gängelung der chinesischen Bevölkerung durch den Staat handelt. Doch Logik darf man auch hier nicht erwarten. Wie immer gilt: Die Macht der Zensoren beruht nicht zuletzt auf ihrer Willkür.

 

Den Goldenen Bären gewann am Ende verdient der Israeli Nadav Lapid für »Synonymes«, einer erzählerisch wagemutigen, autobiografisch gefärbten Abrechnung des Regisseurs sowohl mit seinem Heimatland als auch mit seiner französischen Wahlheimat. Jenseits der großen Politik und dem im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Rennen um die Bären konnte man aber wie jedes Jahr lohnende Entdeckungen machen – wie sollte es auch anders sein bei einem mehr als 400 Filme umfassenden Programm.

 

Gleich drei Langfilme von Absolventen der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM), die in mehreren Sektionen des Festivals liefen, gehörten zu solchen Entdeckungen. In der »Perspektive Deutsches Kino« feierte »Oray« Premire, der Debütfilm des Kölners Mehmet Akif Büyükatalay. Der grundlegende Konflikt des Films wurde schon vielfach künstlerisch gestaltet: Die Liebe eines jungen Mannes gerät in Widerspruch zu seinem Glauben. Was den Film dennoch ungewöhnlich macht, ist, dass Büyükatalay ihn im Milieu türkischstämmiger Deutscher ansiedelt. Titelfigur Oray liebt seine Frau Burcu, doch die Beziehung befindet sich in einer Krise. Bei einem Streit begeht Oray den Fehler und spricht die islamische Scheidungsformel »talaq« aus. Da er streng gläubig ist, hält er sich daran, als sein Imam sagt, er dürfe Burcu deswegen mindestens drei Monate nicht mehr sehen. Oray beschließt von Hagen nach Köln zu ziehen und dort ein neues Leben zu beginnen – immer mit der Perspektive, dass Burcu zu ihm zurückkehren werde. Doch sein neuer Imam in Köln legt die islamischen Regeln noch strenger aus – vielleicht auch aus Neid auf den charismatischen Oray, der in der Hinterhof-Moschee zum mitreißenden Prediger wird. Texte sind eben immer auch eine Sache der Auslegung. Regisseur Büyükatalay überzeugt mit einer dynamischen Regie und einem Hauptdarsteller, dessen Präsenz den Zuschauer in die Geschichte hineinzieht. Dafür gab es am Ende des Festivals den mit 50.000 Euro dotierten Preis für den besten Debütfilm, vergeben von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten.

 

Für seinen nicht-fiktionalen KHM-Abschlussfilm »Fortschritt im Tal der Ahnungslosen« reist Florian Kuhnert zurück in seine sächsische Heimat, um dort syrische Flüchtlinge mit den ehemaligen Mitarbeitern eines längst abgewickelten Landmaschinen-Kombinats zusammenzubringen. Einstige Ingenieure der Fabrik lehren den jungen Männern Deutsch oder wie man Mähdrescher fährt. Kuhnert zeigt ein anderes Sachsen als das von Pegida und Neonazi-Festivals. Es ist ein Land der Ostalgie, aber auch eines des pragmatischen Umgangs mit den Verwerfungen der Geschichte. »Fortschritt im Tal der Ahnungslosen« ist weniger klassischer Dokumentarfilm als vielmehr Versuchsanordnung: Was passiert, wenn man heutige Heimatvertriebene mit den Menschen zusammenbringt, denen die Heimat vor dreißig Jahren ganz ohne Migration verlustig gegangen ist? Die Idee ist gut, schlägt aber im Film nicht immer Funken. Dennoch: Den Versuch war es wert.

 

Ein weiterer ungewöhnlicher Dokumentarfilm kommt von der ehemaligen KHM-Studentin Pia Hellenthal. In »Searching Eva« porträtiert sie die Italienerin Eva Collé, die seit ihrem 14. Lebensjahr ein Leben als »öffentliche Frau« führt. In ihrem Blog breitet die heutige Mittzwanzigerin ihren Alltag als queere Sexarbeiterin, Model, Junkie und Autorin aus. Im Film wird nicht immer klar, was beobachtet ist und was inszeniert – was wohl unvermeidlich ist, bei einer Frau, deren Leben immer auch Erzählung und Performance ist. Authentizität ist hier die ultimative Form der Inszenierung, und die Kamera hält immer drauf: beim Sex, beim Spritzen von Drogen, bei den intimsten Gesprächen. »Searching Eva« führt Fragen dokumentarischer Ethik ad absurdum: Kann es Tabus der Dokumentation geben bei einer Protagonistin, die selbst keine Tabus kennt? Hellenthal gelingt ein Film über eine Frau, die in der totalen Selbstentblößung die totale Freiheit gefunden hat - mit allen schwerwiegenden Folgen im Zeitalter von Social Media.