Asche ist reines Weiß

Zhang-ke Jia (»A Touch of Sin«) erzählt vom rasanten Wandel Chinas in einem packenden Epos

 

Ein Baby in einem Latzhöschen in Großaufnahme. Desinteressiert blickt es auf die rauchenden Minenarbeiter in ihren Blaumännern, die mit ihm im Bus fahren. Mit dokumentarischen Aufnahmen, die Regisseur Zhang-ke Jia 2001 mit seiner ersten Digitalkamera gedreht hat, beginnt er seinen neuesten Film. Die nächste Einstellung weitet Format und Blick: Majestätisch schwebt die Kamera auf die Skyline einer chinesischen Großstadt der Gegenwart — ein gestochen scharfes Bild.

 

Die ersten Einstellungen kontrastieren, was »Asche ist reines Weiß« in den nächsten knapp zweieinviertel Stunden so virtuos zu verbinden weiß: Kleines und Großes, Privates und Gesellschaftliches, Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte beginnt 2001 in der nordchinesischen Provinz Shanxi mit einem bemerkenswerten Auftritt. Protagonistin Qiao betritt einen Raum voller Männer in einem illegalen Spielsalon. Wie eine Saloon-Besitzerin aus einem Western haut sie einem der Spielenden kumpelhaft auf den Rücken, bevor sie ihrem Lebensgefährten Bin spielerisch zur Begrüßung in die Schulter beißt. Bin ist so etwas wie der lokale Mafiaboss und Qiao seine ebenso respektierte Gangsterbraut. Er schlichtet Streitereien unter Ganoven, schmeißt rauschende Partys und scheint gar nicht so ein schlechter Typ zu sein. Doch der Gangster-Nachwuchs hält sich nicht an überkommene Hierarchien. Eines Abends kommt es zur Konfrontation, und Qiao kann Bin nur mit Hilfe von Warnschüssen aus einer illegalen Waffe retten.

 

Da sie sich gegenüber der Polizei weigert, ihren Lebensgefährten zu verraten, wird Qiao für fünf Jahre ins Gefängnis gesteckt. Als sie 2006 den Knast verlässt, muss sie feststellen, dass Bin den Gangster-Ehrenkodex nie so ernst genommen hat wie sie.

 

Qiao wird gespielt von Tao Zhao, der Ehefrau des Regisseurs. Souverän gelingt ihr der Wandel vom selbstbewussten Charisma im ersten Drittel des Films zur Rolle einer Frau, die sich ganz auf sich gestellt ins Leben zurückkämpfen muss. Tao spielt in fast allen Filmen Jias, aber hier hat er vielleicht die komplexeste Rolle für sie geschrieben. In einem Kommentar zu »Asche ist pures Weiß« erklärt er, die Genese des Drehbuchs liege in den Rollen, die seine Frau in seinen Filmen »Unknown Pleasures« (2002) und dem Venedig-Gewinner »Still Life« (2006) gespielt hat. Beide habe er für seinen aktuellen Film kombiniert: die Reinheit, Schlichtheit und bedingungslose Liebe der Figur aus »Unknown Pleasures« und die Komplexität, Traurigkeit und Verschlossenheit der Protagonistin aus »Still Life«.

 

Nicht zuletzt wegen dieses Recyclings ist Jia kritisiert worden, »Asche ist pures Weiß« sei nur ein Potpourri seiner früheren (Festival-)Erfolge. Vieles kennt man tatsächlich: Die Dreiakt-Stuktur mit Zeitsprüngen und Filmformatwechseln gab es schon bei seinem letzten Film »Mountains May Depart« — ein formal und erzählerisch wagemutigerer Film; die vom Strukturwandel betroffenen Bergbauregionen im Norden des Landes und die Orte am Jangtzekiang, die für den Drei-Schluchten-Damm geflutet wurden, spielten in früheren Filmen von ihm bereits eine wichtige Rolle; ebenso das Milieu der Kleinmafiosi.

 

Und nicht zuletzt ist der rasante Wandel der chinesischen Gesellschaft so gut wie immer Thema in Jias Filmen. Aber er hat dieses Großthema vielleicht noch nie so souverän in ein Jahrzehnte umspannendes Epos verpackt wie hier.  Bis auf einen kurzen Ausflug ins Fantastische und die sich wandelnden Bildformate und -qualitäten ist dies ein durchaus konventionell erzähltes Drama, das im letzten Drittel sogar ganz unforciert Pathos entwickelt. Wer noch nie einen Film des Chinesen gesehen hat, für den ist »Asche ist reines Weiß« auf jeden Fall die perfekte Einstiegsdroge.

 

 

 

Asche ist reines Weiß (Jiang hu er nu) CHN/F 2018, R: Zhang-ke Jia, D: Tao Zhao, Fan Liao, Xu Zheng, 136 Min. Start: 28.2.