Suchende Sprachlosigkeit

In Gunther Geltingers neuem Roman »Benzin« verschlägt es die Hauptfiguren nach Süd­afrika. Im Angesicht des kolonialen Erbes müssen sie zu einer neuen Sprache finden

Die Natur unserer Gegenwart erscheint vielen Menschen als bedrohliche, für andere ist sie eine vom Menschen bedrohte. Das altphilosophische Dilemma der Wahrnehmung sorgte beim Dichter Rainer Maria Rilke bereits vor einem Jahrhundert für Unmut: »Wenn der Mensch doch aufhörte, sich auf die Grausamkeit der Natur zu berufen, um seine eigene zu entschuldigen!« — und beschwörte damit den Untergang der Menschheit durch die Menschen. Und während die gegenwärtige Wissenschaft noch darüber streitet, ob wir nun heute im Zeitalter des Anthropozäns angekommen sind, in dem der Mensch durch die eigene Selbstüberhöhung seine größte Gefahr darstellt, versucht der Kölner Schriftsteller Gunther Geltinger die Figuren seiner Erzählungen wieder zu erden, indem er sie dessen beraubt, was sie zu Menschen macht: ihrer Sprache.

 

Die Romanfiguren des 1974 geborenen Autors sind Sprachlose und Suchende zugleich: sprachlos vor einer überwältigenden und fremden Natur, die schließlich zum Nährboden der Suche nach einer neuen Sprache wird. Das Wasser ist dabei Geltingers bevorzugtes Element des Erzählens. In seinem 2008 veröffentlichten Debütroman »Mensch Engel« ist es das Überschreiten eines Flusses, das für den Wiener Studenten Leonard Engel zum Coming-Out wird; in seinem zweiten Buch »Moor« agiert jene mythologische Landschaft als Erzähler der Lebensgeschichte des verstummten Außenseiters Dion. Und während beide Romanfiguren mit ihrer wiedergefundenen Sprache zu schreiben beginnen, schickt Geltinger den Schriftsteller Vinz in seinem Mitte März erscheinenden dritten Roman »Benzin« auf die entgegengesetzte Reise vom geschriebenen Wort ans Ende der Sprache, wie es im Roman heißt. Um ihre Liebe zu retten, die Vinz als Stoff seiner Erzählungen dient, reisen er und sein Partner Alexander nach Südafrika und werden dort von den kulturellen Differenzen überwältigt. Bewegt von der Kindheitserinnerung an einen Wasserfall, führt ihr Weg schließlich zu den sagenumwobenen Victoria-Fällen in Simbabwe, womit sich der Kreis zum Autor  schließt.

 

Das Portrait eines Wasserfalls, das im Roman die Diskrepanz zwischen Darstellung und Wirklichkeit andeutet, war Geltingers erster literarischer Gehversuch im Grundschulalter. »Die Natur war der Anlass meines Erzählens« — und so verwundert es nicht, dass er Dichter wie Rainer Marie Rilke oder Fernando Pessoa als seine frühen literarischen Einflüsse nennt. »Als Jugendlicher war ich Naturlyriker und bin dann irgendwann auch zum Naturerzähler geworden.«

 

Der Sprung von der Lyrik zum Roman erfolgt allerdings über den Umweg des Films. Denn das Bild fasziniert Geltinger genauso wie die Sprache. Daher studiert er nach dem Abitur kurzzeitig Theaterwissenschaften, dann Drehbuch und Dramaturgie in Wien und kommt als Postgraduierter schließlich an die Kunsthochschule für Medien nach Köln. Dort verbringt er die meiste Zeit bereits schreibend und so entstehen die ersten Romanfragmente. »Das Studium hat meine Sprache noch visueller gemacht als sie ohnehin schon war«, erklärt er und definiert sein Schreiben als szenisch. Dabei scheinen sein rhythmischer Erzählstil sowie die Figuren stets vom omnipräsenten Element des Wassers getrieben. Das ständige Ausufern der Sprache ist programmatisch für Geltingers Schreiben und korrespondiert mit der Flusssymbolik seiner Erzählungen: »Ich glaube, dieses Über-den-Fluss-Gehen steht auch ein bisschen für mein Schreiben: Ich habe das Wasser überwunden, um von der anderen Seite aus erzählen zu können.«

 

Das Wasser interessiert Geltinger vor allem als Grenze, an der sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Menschen treffen: Für die einen ist es selbstverständliches Gebrauchsgut, für die anderen hart umkämpftes Luxusgut. Selbiges gilt für den Brennstoff Benzin, der in Geltingers neuem Roman dadurch an politischer Bedeutung gewinnt und zum Ausgangspunkt der mitklingenden Kolonialismuskritik wird. Die Idee zum Roman sei bereits 2014 auf einer seiner Reisen nach Simbabwe entstanden: »Mein Unbehagen war das ausschlaggebende Moment.« Und mit diesem Unbehagen konfrontiert der Autor auch die Figuren seiner Erzählung, die sich als europäische Touristen der alten Kolonialstrukturen des Landes bedienen müssen, um voranzukommen; und sich durch ihre Homosexualität zugleich als unterdrückte Minderheit unter einer Mehrheit wiederfinden. Die Absurdität der Selbstausbeutung des Menschen und seiner Natur gipfelt im Roman im ausufernden Smartphone-Konsum des Protagonisten Vinz, der auf einem Kontinent, dessen Rohstoffkriege für den Fortschritt der westlichen Welt unzählige Menschenleben kosteten, aufgrund seines Smartphone-Besitzes selbst um sein Leben fürchtet.

 

»Benzin« führt eine beschleunigenden Selbstüberhöhung des Menschen vor, der den technologischen Fortschritt zwischen sich und seiner Natur gestellt und dafür seine menschlichste Eigenschaft, die Sprache, als Mittel zur kategorisierenden und exkludierenden Ordnungsgewalt missbraucht hat. Die Festschreibungen der Kolonialgeschichte lassen sich für Geltinger daher nur noch mit einer Neuschreibung durch eine »humanere Sprache« überwinden: »Wir brauchen eine neue Sprache der Annäherung, die die alten Rassismen und Stereotypen überschreibt.« 

 

 

 

Gunther Geltinger: »Benzin«, Suhrkamp, 377 Seiten, 24 Euro