Border

Der iranisch-schwedische Regisseur Ali Abbasi lotet auf überraschende Weise Grenzen aus

Ein dichter Wald. Mittendrin ein paar flache Holzbauten, die wenigen Bewohner tragen praktische, schon etwas abgetragene Funktionskleidung. Auf Schulterhöhe folgt die Kamera den Figuren. Vom Setting und Stil her könnte »Border« US-amerikanisches, vom Sozialrealismus geprägtes Indiekino sein. Aber spätestens bei der ersten frontalen Großaufnahme der Hauptfigur Tina ist klar, dass dies kein gewöhnliches Indiedrama sein wird. Ihr Gesicht ist merkwürdig knubbelig und wulstig, wie aus einem groben Felsblock gehauen. Wer die Schauspielerin Eva Melander nicht kennt, fragt sich gleich, ob sie wirklich so aussieht. Das entstellte Gesicht ist tatsächlich eine Maske — vier Stunden sollen Silikon und Make-up täglich beansprucht haben. Umso erstaunlicher, dass das Resultat selbst in Nahaufnahmen extrem glaubhaft wirkt, dass darunter die Mimik erkennbar bleibt.

 

Der Sozialrealismus hält also nicht lange vor, schon bald changiert »Border« zwischen Krimi, Fantasy-, Horrorfilm und sogar Liebesdrama. Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte des schwedischen Autors John Ajvide Lind-qvist, der auch die Vorlage für den gefeierten Vampirfilm »So finster die Nacht« (2008) lieferte. Hier schöpft er aus der düsteren skandinavischen Sagenwelt.

 

Tinas Andersartigkeit endet nicht bei ihrem Aussehen. Aus geschlossenen Räumen versucht sie gewöhnlich schnell wieder hinauszukommen. Zwischenmenschliche Interaktion findet zwischen Tür und Angel statt. Und selbst daheim im Flachbau, den sich Tina in einer nicht immer platonischen Nutznießer-Gemeinschaft mit dem arbeitslosen Kampfhund-Liebhaber Roland teilt, geht sie Auseinandersetzungen aus dem Weg. Schnell zieht sie die Tür hinter sich zu und geht im Wald spazieren.

 

Tina arbeitet an einer Zollstation am Hafen, durchsucht das Gepäck aller Reisenden, die nach Schuld riechen. Das ist das wohl Bemerkenswerteste an ihr: Sie kann die Gefühle der Menschen riechen, speziell Schuldgefühle, Scham und Wut. Dann zuckt sie mit der Oberlippe wie ein wildes Tier, das die Lefzen hochzieht. Was immer ihre animalische Intuition bedingt — auf jeden Fall scheint Tina nicht in die langen Gänge und fensterlosen Kammern der Hafengebäude zu gehören, sondern in den Wald, zu den Füchsen und Elchen, die, begleitet von düster-elektronischen Ambientklängen, immer wieder auffällig furchtlos ihre Nähe suchen.

 

Tinas Weltbild wird gehörig durcheinander gewirbelt, als sie bei der Arbeit Vore begegnet, der ihr ähnelt. Auch an ihm riecht sie die Schuld, aber ohne etwas Kompromittierendes zu finden. Ist es also sein Körper allein, der gegen die Regeln verstößt? Ganz anders ist es bei einem Geschäftsmann im feinen Anzug, der hektisch versucht eine Speicherkarte zu schlucken — mit, wie sich später herausstellt, kinderpornografischem Material. Daraufhin heuert die Polizei Tina an, um mit ihrer Gabe dabei zu helfen, einen Pädophilenring auszuheben. »Ein ganz normales Paar in einer ganz normalen Ikea-Wohnung«, wird sie sich später wundern.

 

In »Border« befasst sich der iranisch-schwedische Regisseur Ali Abbasi mit Tabus und Grenzen — intuitiven, erlernten und gesellschaftlich Habitualisierten. Vor allem aber mit körperlichen Grenzen, die das vermeintlich Normale vom Unnormalen, und überhaupt, den Menschen von anderen Daseinsformen unterscheiden. Allein die Figur der Tina, die sich am Rande der Gesellschaft eingerichtet hat, macht den Punkt dieses parabelhaften Films, der bereits vielfach international ausgezeichnet wurde, vielleicht etwas zu überdeutlich: die Frau in Uniform, die menschengemachte Grenzen hütet, nur um eines Tages mit Grundsatzfragen nach deren Sinn und Unsinn konfrontiert zu werden. Aber wie über-raschend Abbasi von diesem Thema erzählt, macht »Border« zu einer der Besonderheiten im diesjährigen europäischen Arthousekino.

 

 

Border (Gräns) SW/DK 2018, R: Ali Abbasi, D: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, 110 Min. Start: 11.4.