Bildbuch

Jean-Luc Godards Essayfilm erzählt von der Transformation unserer Wirklichkeit

Mit den Händen könne man denken, sagt eine Stimme. Eine Reise ins Schattenreich wird angekündigt, wir hören: »Orpheus ist zurück aus der Unterwelt. Was geschah auf seiner langen Reise?« Begegnet ist er offenbar vielen Bildern. »Le livre d’image«, »Bildbuch«, heißt der neueste Film von Jean-Luc Godard, dem 88-jährigen Großmeister der Nouvelle Vague.

 

Am ehesten beschreibt man »Bildbuch« als einen Essayfilm in Form eines kommentierten, in schnellen, oft abrupten Schnitten komponierten Bilderstroms: rätselhaft, verführerisch, aufklärend, alle Dechiffrierer belohnend, zwingend, sarkastisch. Ausschnitte aus der Filmgeschichte, Nachrichtenbilder, Parolen und Begriffe werden in fünf Kapiteln assoziativ verbunden mit übereinandergelegtem Sound und einer Erzählerstimme, die Godard auch in der deutschen Synchronisation selbst spricht. Vor allem zu Beginn sind die groben Schnitte auffällig, die die Brüche und das Rohe der Montage betonen.

 

Anfangs geht es um »Remakes« und das Atomzeitalter. Anna Karina sagt »Je suis pas triste« und lügt dabei; dann Szenen aus Vietnam, »Apocalypse Now«, »Menschen am Sonntag«, »Paisa«. Im zweiten Teil mit dem Titel »Abendgesellschaften in St.Petersburg« sehen wir unter anderem »Krieg und Frieden«-Verfilmungen, lesen »Krieg ist hier«, sehen Hagen in Fritz Langs »Nibelungen« und Ausschnitte aus »Cleopatra«, lesen »Die Unschuldigen bezahlen für die Schuldigen«, sehen Dokumentarbilder aus Lagern, es folgen Hinweise auf Rosa Luxemburg und den Graf de Maistre, den Reaktionär der Gegenaufklärung. In diesem Stil geht es weiter: Schön anzusehen, beziehungsreich, aber auch kryptisch und produktiv verwirrend. Zugleich ein klarer Film, Klarheit schaffend: Es gibt viele schöne Einsichten hier. 

 

Alles mündet in ein Crescendo der Botschaften. Die Bilder zeigen, wie das Kino Terror abbildet, zum Teil auch »ausübt«, Opfer und Täter ist, Parteigänger. Ein Satz von Bertolt Brecht gegen Ende gibt rückwirkend die Ästhetik vor: »Nur das Fragment ist authentisch.« Vielleicht hat es Godard auch erfunden. Zuzutrauen wäre es ihm. 

 

Godard erzählt von Gegenwart und Zukunft, beschreibt verlorene Paradiese, unser aller Verhältnis zu den Bildern, zu ihrem Scheincharakter, und die allmähliche Transformation unserer Wirklichkeit — die die ganze Welt, nicht nur den Westen betrifft. Der Film hat einen melancholischen Ton, aber eine entschiedene Haltung: »Bildbuch« ist kein Abgesang, schon gar nicht auf das Kino, aber eine scharfe Kritik unserer Kultur. 

 

Er werde immer auf der Seite der Bombenleger sein, »es muss eine Revolution stattfinden«, ist einer der Schlüsselsätze eines Films, der sich perfekt in Godards Spätwerk fügt. 

 

 

Bildbuch (Le livre d’image) CH/F 2018, R: Jean-Luc Godard, 84 Min. Start: 4.4.