Wuchtblas-Passagen

Der Londoner Saxofonist Shabaka Hutchings spielt den Jazz der Stunde. The Comet is Coming ist sein neuestes Band-Outfit

 

Wir schreiben das Jahr 1968 und Paul McCartney wird vom Ehrgeiz gepackt: Nicht The Who sollen die härteste Band der Welt sein, sondern dieser Thron gebührt bitte, wie sowieso alle anderen, den Beatles. Das Kind dieser Mission ist als »Helter Skelter« in die Geschichte des Pop eingegangen und wird gerne als Geburtsstunde des Hard Rocks gefeiert. Der onomatopoetische Titel, der in etwa »Holterdiepolter« bedeutet, steht noch heute für einen genialistischen Ausbruch, der die Anfänge des Rock’n’Roll in Erinnerung rief: Devianz, jugendlicher Leicht- und Größenwahn, Wut — oder wie der amerikanische Exzentriker Kim Fowley mal sagte: »When white people tell other white people, they can’t have sex, they become teenage rebels.«

 

Ein ähnliches Projekt der Wut, des Sturm und Drangs, bricht derzeit wieder über die Welt herein; diesmal ist jedoch nicht etwa Rock der Spielplatz, auf dem sich Jugendliche treffen, um kleinen Kindern und ihre Müttern Angst und Schrecken einzujagen, sondern — man höre und staune — Jazz.

 

Wir reden hier nicht etwa über den amerikanischen Superstar Kamasi Washington, an dessen Neo-Soul-Jazz in den Feuilletons kein Weg vorbei führte, sondern über den afro-britischen Künstler Shabaka Hutchings. Beide eint ihr Instrument, das Saxofon, beide sind Teil einer neuen Welle von Künstler*innen, die sich im Jazz, dem altintellektuellen Schmuddelkind des Distinktionsgewinns, sehr wohl fühlen. Auch gemein ist ihnen, dass sie Jazz vom akademischen Kopf auf die tanzenden Füße stellen. London spielt für Hutchings dabei eine entscheidende Rolle, spuckt die Stadt nochmal kurz vor dem Brexit eine Armada an Musiker*innen aus, die Aufsehen erregen: Nubya Garcia, Binker Golding oder auch Moses Boyd, um nur wenige zu nennen.

 

An der Spitze dieser Entwicklung steht »King Shabaka«, wie sich Hutchings ein bisschen eitel nennt. Mit 34 Jahren  ist er der unumstrittene Fokus einer Szene, die nicht nur Insiderkreise zum Schwelgen bringt. Hutchings Posterboy-Position resultiert aus seiner Karriere, die mit eigenen Jazz-Gruppen begann und schnell zu öffentlicher Wahrnehmung außerhalb der Jazz-Kreise führte. Mulatku Astatke, der große äthiopische Jazzmusiker, castete 2012 Hutchings für sein Kollektiv Heliocentrics. Schon vorher nahm Hutchings mit Größen wie Evan Parker auf.

 

Dennoch ist sein Ziel, aus den Jazz-Kreisen auszubrechen. Einflüsse sind, typisch englisch, eben auch Grime und Dubstep, gleichzeitig zehrt er besonders von der großen afro-englischen Community, die in zahlreichen Clubs Woche für Woche High-Life und Afrobeat spielt und feiert. So entstehen rund um Hutchings etliche Gruppen und Kooperationen, die ein extrem weites Feld zwischen Beatscene-Hip-Hop, New-New-Orleans Carnival-Sound, R’n’B aber auch Bassmusik öffnen. Während Shabaka and the Ancestors mit den südafrikanischen Kollegen Nduduzo Makhathini und Tumi Mogorosi afrikanische Musiktradition erneuern, konnte er letztes Jahr mit Sons of Kemet Awards und Spitzenplätze abräumen. Die Sons rollten mit ihrer Platte »Your Queen Is a Reptile«, eine Huldigung an schwarze feministische Heldinnen der Geschichte, durch Festivals und Konzerträume. Hutchings Saxofon-Spiel wird hier zur Waffe, zur politischen Wutmaschine, zum neuen Helter-Skelter. Sein aggressiver, Stakkato-Ausdruck prescht durch die Stücke in Bilderstürmer-Manier; man erinnert sich an die Punk-Jazz-Entwürfe der späten 70er Jahre mit Bands wie Rip Rig + Panic. Wenn man es nicht besser wüsste, hörte man in seinem Spiel gar Einflüsse von Rage Against The Machine heraus.

 

Es wird sogar noch schlimmer bzw. besser: mit dem kokett betiteltem Drei-Mann-Projekt The Comet is Coming. Wuchtblas-Passagen paaren sich mit leicht kitschigen bzw. recht protzigen Synth-Lines im Bass-Spektrum und wütendem Schlagspiel. Stellen wir uns vor, Peter Brötzmann ginge ins Moderat-Konzert. Im Stile dreier Boten aus dem Weltall-Land, geboren auf einem dieser zerstörerischen Kometen, derer tausende jedes Jahr die Erde nur knapp verfehlen, bieten Danalogue, Betamax und King Shabaka eine atemberaubende Show. Afro-futuristischer Sun-Ra-Jazz wird zwar als Einfluss genannt, doch wer ein Konzert der Kombo besucht, weiß Gewaltiges zu berichten: Hier wird gemosht, es sind junge Leuten, die sonst gerne Cloud-Rapper hören. Gemosht — auf einem Jazz-Konzert!

 

Dies bleibt eine der interessantesten Erkenntnisse der letzten Zeit: Der Muff von tausend Jahren und ebenso alten Cordhosen verzieht sich so langsam aus dem Jazz-Gewebe. The Comet is Coming ist vieles und vor allen Dingen sexy. Und dieser Trend ist tatsächlich nicht nur in und aus London zu beobachten, sondern gilt im gleichen Maße für die amerikanische Band BadBadNotGood oder, wenn man so will, für das Kölner Kollektiv und Elektro-Jazz-Projekt C.A.R. . Wo früher hermetische Gralshüterei vorherrschte, pumpt heute der Dubstep unter der Oberfläche.

 

Das holtert laut und poltert genauso — und zieht unwiderstehlich in den Bann. Live noch mehr als auf dem grandiosen Album »On Trust In The Life Force Of The Deep Mystery«, das dieser Tage erscheint. Hier gibt es neben ganz viel Fun gleich ein Stephen Hawking gedenkendes Manifest über die Zukunft der Menschheit und der drohenden wie anzustrebenden »Space Migration«. Vorgetragen vom UK-Wunderkind Kate Tempest — noch so ein wütender Stern am Firmament. 

 

 

 

Tonträger: The Comet is Coming, »Trust In The Lifeforce Of The Deep Mystery« ist erschienen auf Impulse/Universal.