Im Vorbeigehen erwischt

 

Die Stadt Köln sichert das Projekt Kunstsäulen für zehn Jahre — vorbildlich

In Carol Reeds »Der dritte Mann« flieht Harry Lime alias Orson Welles durch dunkle Gassen, überquert einen großen Platz und ist plötz­­lich verschwunden — durch die Geheim­­tür in einer Litfaßsäule hinab in die Wiener Kanalisation. Erich Kästner wählte für »Emil und die Detektive« eine Plakatiersäule als Versteck der Jugendbande, und in dem populären DDR-Kinderfilm »Moritz in der Litfaßsäule« von 1983 findet Aus­reißer Moritz dort Unterschlupf, zusammen mit einer sprechenden Katze. Joachim Ringelnatz hat ihr sogar ein lyrisches Solo verschafft: »Es stehen die Litfaßsäulen / Verstreut, den Leuchttürmen gleich, / Und lassen vom Wind sich umheulen, / Und werden im Regen ganz weich.«

 


Wartet die Litfaßsäule insgeheim nur darauf, ihre wahre Bestimmung als dicklicher Statist oder gar handlungsentscheidende Hauptfigur in der Kunst zu finden? Vermutlich eignet sie sich deswegen dafür so gut, weil diese runden Dinger funktional und mysteriös zugleich sind, für jeden sichtbar auf Straßen und Plätzen rumstehen und heute nostalgischen Wert als Kulturgut haben — aussterbende Zeugnisse analoger Kommunikation, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, genauer: des Berliner Druckers Ernst Theodor Amandus Litfaß.

 


1855 war Litfaß’ Säule revolutionär. Statt wildplakatierter Zettel an Bäumen, Häusern, Zäunen endlich Ordnung, und damit war auch noch Geld zu verdienen. Die Stadt Berlin feierte die Aufstellung der ersten 100 Exemplare mit einem Festakt, der clevere Unternehmer ließ dafür eigens die »Annoncier-Polka« (Musik, ein Rundtanz!) komponieren. Kurz: Ernst Litfaß ist sozusagen der Vater der Kommerzialisierung des Öffentlichen Raums, bestattet in einem  Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte, schräg gegenüber befindet sich das Grab von Bertolt Brecht.

 


Und heute? Mausetot ist die gute alte »Annonciersäule« nicht. Noch nicht. Vor zehn Jahren ­standen in Deutschland noch ca. 120.000 Stück, in Köln waren es mal 800. In den letzten Jahren werden sie reihenweise abgebaut, Großkunden bevorzugen ihre digitale High-Tech-Nachfolgerin, die »City-Light-Säule« oder buchen gleich videofähige Großleinwände. Was mit den verbleibenden Klassikern geschehen soll, wird in vielen Städten diskutiert, aktuell auch besonders heftig in der Hauptstadt —und Köln hat ausnahmsweise mal Vorbildfunktion.

 


Zwischen Ex und Hop und sentimentaler Denkmalisierung entschied man sich hier für eine Umnutzung. Wegbereiter war die Kunsthochschule für Medien, die 2015 anlässlich »25 Jahre KHM« und »160 Jahre Litfaßsäule« zweihundert zum Abriss bestimmte Säulen mit künstlerischen Motiven plakatieren ließ. »Wir haben keine Angst« druckte der Künstler Christian Sievers in schwarzer Riesentypo auf giftigem Gelb, dazu eine Telefonnummer. Notruf? Seelsorge? Oder doch verkappte Werbung? Zu lesen auf 200 Säulen im ganzen Stadtraum war die anonyme Botschaft verstörend präsent.

 


Was alles möglich ist, wenn Künstler*innen sich von der öffentlichen Rundumleinwand inspirieren lassen, zeigten die folgenden Projekte. Bei Johanna Reichs »Heroines« (2016) verschmolzen die Gesichter junger Frauen mit deren populären Heldinnen aus der Mode- und Hollywoodwelt zu hybriden Wesen. Vera Drehbuschs nahtlos tapezierte abstrakte Malerei verwandelte jede Säule in ein skulpturales Objekt (2016); Sophia Bauer druckte das Transskript von ausgestorbenen Singvögelstimmen auf weiße Plakate. Die letzte Aktion, Rozbeh Asmanis »Colourmarks« (2017/18), ist in dem KHM-Künstlerbuch »54 Litfaß Kiosk« festgehalten. Asmani arbeitete mit »illegalen« Farben, die sich Konzerne haben markenrechtlich schützen lassen, das Ergebnis changierte irgendwo zwischen Guerilla-Konzeptkunst und Farbfeldmalerei und leuchtete weithin.
Das war alles prima, dann plante Kooperationspartner Ströer das Aus. Nach hartnäckigen Verhandlungen mit dem Außenwerbungs­giganten ist es dem Kulturamt gelungen, ihn doch noch als festen Partner zu gewinnen und 25 »Kunstsäulen« für zehn Jahre zu sichern. Die Standorte sind verteilt im ganzen Stadtraum, es gibt einen Produktionsetat (4.000 Euro pro Künstler), die Vergabe erfolgt in einem offenen Wettbewerb, rund vier Projekte im Jahr sind geplant. Im April wurden das erste vorgestellt: Für seine Arbeit »Opa 1&2« hat der Kölner Künstler Philipp Hamann Fundstücke aus dem Nachlass seines Großvaters — ein Arzt, den er nie kennengelernt hatte — zu »Legebildern« arrangiert. Ein weißer Sommerhut, Zeichnungen, Postkarten erzählen vom Meer, von Sonne und Wind und dem Segeln, Opas Leidenschaft.

 


Die Pressekonferenz fand an der Litfaßsäule auf dem Kalker Taunusplatz statt, zwischen Apotheke, Moschee, einer türkischen Änderungsschneiderei und dem bürgerlichen »Taunushof«. Eine Woche später klebte rund um die Säule in Augenhöhe ein signalrotes Band von »Kalk AFD-frei!«-Plakaten auf Opas Nachlass, auch das ist öffentlicher Raum. Gut 150 Jahre später funktioniert die »Annonciersäule« immer noch als günstiges und höchst flexibles Kommunikationsmedium. Kriegsdepeschen, Vermisstenanzeigen, RAF-Fahndungsfotos, Reklame-Träger als überdimensionaler »Labello«-Stift (gab es!), Politparolen, »Katze entlaufen«-Zettel — in ihrer Nutzung passt sich die »Standzeitung« maximal den Bedürfnissen an.

 


In Köln schreiben jetzt 25 »Kunstsäulen« diese Geschichte fort. Okay: Man hätte sich 200, zumindest runde 100 gewünscht, die 25 wirken ein wenig wie das Kultur-Feigenblatt, was wohl die ökonomischen Machtverhältnisse widerspiegelt. Trotzdem ist es ein schöner Erfolg: In den kommenden zehn Jahren wird es rund vierzig Künstlerprojekte geben, zu sehen umsonst, draußen und streng öffentlich. Ringelnatz hätte es gefreut: »Früh lehnt ein Mann eine Leiter / An das, was Litfaß erfand. / Er reißt ihr vandalisch doch heiter / In Fetzen das bunte Gewand.«

 


Standorte der Kunstsäulen auf ­stadt-koeln.de, die nächste Kunstaktion ist im Juli geplant