»Niemand passte auf mich auf«

 

Ein Gespräch mit dem Fotografen Richard ­Billingham über seinen Film Ray & Liz, das Thatcher-England und die Vorteile einer unbeaufsichtigten Kindheit

Mister Billingham, Ihre fotografischen Arbeiten über Ihre Eltern ­liegen fast zwanzig Jahre zurück. Was hat Sie dazu bewogen, nach so langer Zeit einen Spielfilm über Ray und Liz zu machen?

 

Ich bin jetzt im mittleren Lebensalter und habe selbst drei Kinder. Sie sind vier, zehn und zwölf Jahre alt. Ihr Leben ist ganz anders als meine Kindheit. Sie gehen auf gute Schulen. Ihnen fehlt es an nichts. Sie aufwachsen zu se­hen, verdeutlicht mir, wie meine eigene Kindheit in den eng­lischen Midlands in der Nähe von Birmingham verlief, damals in der Thatcher-­Ära.

 



Ihre Eltern waren nicht das, was man sich unter einer idealen Familie vorstellt: der Vater Alkoholiker, die Mutter eine übergewichtige Kettenraucherin. Wie sehen Sie sie heute?

 

Ich denke nicht, dass sie schlechte Eltern waren. Sie waren vielleicht nicht besonders gut vorbereitet auf diese Aufgabe. Eine gute Sache an meiner Kindheit war, dass ich große Freiheit hatte. Diese Freiheit haben Kinder heute nicht. Meine Tage waren unstrukturiert, niemand passte auf mich auf. Ich konnte ein­fach bei anderen Leuten klopfen, ich konnte vor allem sehr viel Zeit draußen verbringen. Dabei war ich ziemlich kreativ und habe immer etwas zu tun gefunden. Heute ge­hen Kinder in die Schule, und danach haben sie Sport, lernen eine Sprache oder ein Instrument. Das ergibt einen vollen und sehr getakteten Tag. Meine Kindheit hatte also auch Vorteile.

 



Haben diese Umstände dazu beigetragen, dass Sie Künstler geworden sind?

 

Ein bisschen. Diese freie Zeit war auch langweilig, also begann ich zu zeichnen und holte mir Bü­cher aus der Bibliothek. Das war in gewisser Weise eine seltene Möglichkeit, mich frei und kreativ zu entwickeln.

 



Der Film hat eine interessante Struk­tur: zwei Teile und eine Rahmen­hand­lung.

 

Das führt noch einmal zu der Frage zurück, warum ich den Film gemacht habe. Ich habe mich nicht eines Tages hin­gesetzt und ein Drehbuch geschrieben. Die Sache entwickelte sich allmählich. Den Teil mit Ray, der jetzt am Anfang steht, haben wir zuerst gefilmt. Er sollte ursprünglich ein etwa dreißig Minuten langer Film für eine Galerie werden. Dort lief er sogar als Loop, das heißt, Anfang und Ende gingen ineinander über. Einen Teil dieses kurzen Films aus dem Jahr 2015 haben wir jetzt wiederverwendet. Teil zwei und drei entstanden später. Erst danach überlegte ich, wie die Teile zusammenpassen könnten. Wenn du ein dokumentarischer Foto­graf bist, suchst du nach visuel­len Symbolen, nach Mustern. Erst aus diesen Muster wird ein ganzer Film.

 



Hat das Kino Sie schon in Ihrer Kindheit interessiert?

 

Ja, ich hätte gern mehr Filme gesehen, hatte aber damals nicht immer Geld. Mit 19 fand ich einen Job und konnte öfter ins Kino gehen. Ich habe Malerei studiert und wollte danach einen Film-Master machen. Dann kam aber schon die Fotografie dazwischen, und so habe ich dieses Studium nie gemacht.

 


Sie haben analog gedreht. Wie lief das?

 

Wenn du mit analogem Film drehst, bei uns war das ein 16mm-Material, dann wird alles sehr technisch. Da machst du keine Schnapp­schüsse, das ist eine große Kamera, die von fünf Leuten bedient wird. Ich könnte die nicht einmal einschalten.

 



Können wir das besondere, fast qua­dratische Bildformat als Verweis auf das Fernsehen sehen? Vielleicht sogar auf ein Fernsehformat wie die Sitcom?

 

In meiner Kindheit gab es keine Widescreen-Bilder. Heute sind selbst Computer dem Filmbild angeglichen. Man kann im 4:3-Format besser mit Köpfen umgehen als in einem Panoramabild.

 


»Ray & Liz« ist auch ein Film über die Regierungszeit von Margaret Thatcher in England. Sie hat den Sozialstaat stark angegriffen. Was würden Sie Menschen entgegnen, die Ihren Film als Beleg dafür nehmen wollen, dass Menschen in der Grundversorgung träge werden und keine Ziele mehr haben?

 

Meinem Vater wurde 1980 gekündigt. Er hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet. Männer wie er haben in der Regel einfache Arbeiten ge­macht, zum Beispiel im Bergbau. Sie konn­ten nur das, es war sehr schwierig für sie, sich zum Beispiel auf die ­Ser­vice-Industrie umzustellen. Das würde ich darauf antworten (lacht leise).

 


Was ist das für ein Blick, den Sie auf Ray und Liz richten?

 

Ich wollte einen Film mit Empathie und Ver­ständnis machen. So viel Em­­pathie wie möglich.



 

 

 

Richard Billingham



Billingham (*1970) wurde 1996 mit seinem Fotoband »Ray’s a Laugh« berühmt, in dem er ebenso schonungslos wie humorvoll seine Eltern porträtiert und die Armut und Verwahrlosung, in der er aufgewachsen ist. 1997 war er Teil der berühmten Ausstellung »Sensation« in der Royal Academy of Arts mit Young British Artists wie Damien Hirst und Tracey Emin. Seit 1998 arbeitet er auch mit Video. »Ray & Liz« ist sein erster abendfüllender Spielfilm.