Mal die Luft rauslassen

Cannes 1: Spaßvögel auf der Croisette, Untote im Kino

Am Rande des Spektakels: Ein kleiner, dicklicher mittelalter Mann hält einen mit Kuli beschriebenen Zettel hoch und geht immer wieder einige Meter auf und ab. Das ist nicht ungewöhnlich hier an der Croisette während des Filmfestivals von Cannes. Während eine scheinbar unendliche Schlange von meist sehr schönen und sehr gut gekleideten Menschen aus der ganzen Welt sich gemächlich Richtung Grand Theatre Lumière bewegen, suchen die weniger glücklichen noch mit Hilfe solcher hochgehaltener Zettel eine Einladung ergattern zu können - nur die verschaffen ihnen den Zugang zu den Galas im größten Kinosaal des Festivals. Am Abend sind die Ticketsucher meist schon festlich gekleidet: Männer im Smoking und mit Fliege, die Frauen mit hohen Schuhen und in Abendgarderobe. Sonst würden sie am Eingang abgewiesen.

 

Doch der kleine, dickliche Mann läuft in zu kleinen Shorts und Schlappen herum. Wer genau hinsieht, stellt fest, dass auf seinem selbstgeschriebenen Zettel auch nicht der Titel des gewünschten Films steht, wie bei allen anderen, sondern in Großbuchstaben lediglich: »I FARTED«, zu Deutsch: »ICH HABE GEFURZT«.

 

Doch nicht viele gucken genau hin: Es sind zu viele mit ihren Zetteln unterwegs und kleine, dickliche, schlecht gekleidete mittelalte Männer sind hier so gut wie unsichtbar - wenn es sich nicht gerade um berühmte Filmschaffende oder Milliardäre handelt. Das tut der guten Laune des Spaßvogels aber keinen Abbruch. Er hat - zumindest in seiner Wahrnehmung - die Luft rausgelassen aus dieser ganzen aufgeblasenen Veranstaltung.

 

Wenn über zweitausend Leute sich bis zum Anschlag aufbrezeln, um eine lakonische Zombiekomödie zu gucken wie Jim Jarmuschs »The Dead Don‘t Die«, mit der das Festival eröffnet wurde, kann man das in der Tat albern finden. Auf der anderen Seite: Wo sonst wird dem Kino solcher Respekt erwiesen - und dann auch noch einem Horrorfilm - wie in Cannes? (Allerdings auch nur wenn ein anerkannter »auteur« wie Jarmusch auf dem Regiestuhl saß.)

 

Die Französin Mati Diop hat zwar erst ihren Debütfilm gedreht, aber gehört als Nichte der senegalesischen Regie-Legende Djibril Diop Mambéty (»Touki Bouki«, kürzlich noch von Beyoncé und Jay Z für ein Musikvideo gefleddert) und Darstellerin aus Claire Denis‘ »35 Rum« quasi zum frankophonen Filmadel. In ihrem Wettbewerbsfilm »Atlantique« stehen die Toten ebenfalls wieder auf. Die Geister von jungen Männern, die auf der Suche nach einem besseren Leben auf dem Weg von der Elfenbeinküste nach Spanien ums Leben gekommen sind, fahren nachts in die Körper von Bewohnern Abidjans. Im Zentrum steht aber zunãchst eine junge Frau, Ada, die sich in einen dieser jungen Männer verliebt hat. Eine klassische Geschichte: Sie liebt einen armen Schlucker, doch ihre Familie verheiratet sie mit einem reichen Schnösel. Ada kann und will das nicht akzeptieren. Als in der Hochzeitsnacht ein Feuer im neuen Ehegemach ausbricht, ermittelt die Polizei. 

 

Die in den letzten Jahren oft erzählte Geschichte weiblicher Selbstermächtigung wird hier nicht nur durch den Horror-Twist aufgefrischt, auch das Setting und der komplett afrikanische Cast machen aus »Atlantique« eine Besonderheit. Den Blick auf die tosenden Atlantikwellen vor Abidjan wird man jedenfalls so schnell nicht vergessen, ebensowenig wie die weißen Untotenaugen, die nachts in den dunklen Gesichtern zu leuchten scheinen. Im deutschen Kino wird Diops Film, wenn er überhaupt regulär startet, vermutlich insgesamt nicht mehr Zuschauer finde als bei seinen paar Vorführungen in Cannes. Schön, wenn er wenigstens hier mit allem Tamtam gefeiert wird.