Erinnere dich mal, du blödes Kind Europa!

 

Auch wenn Andreas Spechtl auf seinem neuen Album »Strategies« weniger Worte benutzt, die politische Dringlichkeit hat nicht nachgelassen

Ein paar Minuten vor der vereinbarten Interviewzeit meldet das Handy eine eingegangene Nachricht. Ob man sich woanders treffen könne, fragt Andreas Spechtl? Verlässliche Quellen hätten das vorgesehene Café in Neukölln als Trojanisches Pferd einer radikalen amerikanischen Evangelistensekte geoutet, mit dem sie Berliner Hipstern das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Nein, da wollen wir natürlich nicht dabei sein und so treffen wir uns stattdessen am angenehm unspektakulären Boddinplatz.

 


Spechtl hadert charmant mit dem Jet Lag. Er ist erst am Vorabend aus Mexiko zurückgekommen, wo er Vorbereitungen für eine Theaterper­formance getroffen hat, an der neben ihm noch Thomas Köck, mit dem er das Performanceprojekt Ghostdance unterhält, und die Regisseurin Elsa Yach beteiligt sind. Jet Lag? Nichts, was nicht mit Kaffee zu lindern wäre.

 


Zwar ist »Strategies« nach »Thinking About Tomorrow, And How To Build It« (2017) und »Sleep« (2015) bereits das dritte Soloalbum von Spechtl nach dem (temporären) Ende von Ja, Panik, aber das heißt nicht, dass es über die Veränderungen, die damit einhergehen, nichts mehr zu reden gäbe. Im Gegenteil, die elektronische Soundästhetik, an der er sich abarbeitet, ist ja noch warm. »Strategies« und »Thinking About Tomorrow …« eint, dass Spechtl mit weniger Wortgewalt agiert als bei Ja, Panik. Doch keine Angst, er hat lediglich den Duktus der Ansprache modifiziert, die Luft ist nicht mehr so knapp, die Dringlichkeit oberflächlich leiser, zwischen den Zeilen pocht es aber so heftig wie eh und je.

 


Während Spechtl diesen Weg der Wortentschlackung auf »Thinking About Tomorrow …« so radikal weit gegangen ist, dass er das Album rückblickend als sein »New Age«-Werk bezeichnet — was aber auch daran lag, dass es im Iran und somit in einem Zustand der Sprachlosigkeit entstanden ist, da weder er seine Umwelt verstehen konnte noch diese ihn —, positioniert er sich mit »Strategies« lyrisch in der Mitte zwischen Ja, Panik und seinen Soloarbeiten. »Ich habe wieder mehr Texte reingeholt, da mir im nachhinein der Interpretationsspielraum zu groß war«, erzählt er. »Es war zu vage. Ich wollte dem Ganzen wieder Kante geben.« Wobei diese Ambition keineswegs von Beginn an als Masterplan angelegt war, sondern sich erst im Verlauf ergeben hat: »Ich hatte zunächst viel Text auf der Platte — und dachte, es wird noch mehr. Es gab Versionen, wo noch viel drüber gesungen wurde, aber das machte mir die ganze Musik kaputt. Das hat mir richtig Stress verursacht. Dann hab ich mich nochmal hingesetzt und die Texte verdichtet.«

 


Einher mit dem neuen Umgang mit Sprache geht das spezielle Zeitgefühl, das die Soloarbeiten von Spechtl auszeichnet, der instrumen­talere Charakter seiner Musik führte zu einer Auflösung von klassischen Songformaten. »Für mich ist es die am linearsten komponierte Platte, die ich je gemacht habe, die Stücke sind auf einer Zeitachse angelegt«, erklärt Spechtl. »Es gibt fast nichts, auf das man zurück kommt: keine Strophen, keine Refrains — die Stücke fangen an und bewegen sich auf einen Punkt zu, es gibt keinen Rückschritt.«

 


Wir kommen zurück auf die Texte des Albums. Wie alle gute Songwriter möchte Andreas Spechtl nicht zu viel selber erklären, aber über den Rahmen könne man schon sprechen. »Es gibt auf dem Album ein wahnsinniges Interesse an der Zukunft als offenes Feld«, führt er aus. »Das letzte Stück, ›Structures‹, dreht sich, wie auch schon das Ja, Panik-Stück ›Dmd Kiu Lidt‹, um gesellschaftliche Strukturen, die einen zugleich krank machen und heilen. Ein Hang zum altmodischen Klassenbewusstsein, das ist in mir, das kann ich auch nicht lösen: Das gab es bei Ja, Panik und das gibt es auch bei meinen Solosachen.«

 


Womit wir bei »When We Were Young« angekommen sind, dem Song, den man beim ersten Hören für eine Midlife-Crisis-Offenbarung halten könnte. Spechtl erzählt, dass ihn hierzu Rebecca Solnits Buch »Hope in the Dark: Untold Histories, Wild Possibilities« inspiriert habe, und das, obwohl er es beim Lesen eigentlich gar nicht so gut fand, er danach aber trotzdem immer wieder darauf zurück gekommen sei. Solnits sensibilisert dafür, die positiven Entwicklungen der letzten hundert Jahre (von der Frauenbewegung über den Gender-Diskurs, die Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Abnahme der kriegerischen Handlungen und kriegsbedingten Toten) durchaus als positiv zu vergegenwärtigen. »Allerdings sei es wichtig«, so Spechtl, »sich nicht darauf auszuruhen, denn sonst führt das zum Stillstand«. Das »We« sei übrigens Europa, gewährt er dann doch einen Einblick. »›When We Were Young‹ meint den Anfang von Europa — und das spätere ›Transit‹ bezieht sich auf das Buch von Anna Seghers, das von einer Zeit handelt, in der die Europäer die Flüchtlinge waren.«

 


In »Transit«, vor einem Jahr von verfilmt von Christian Petzold, erzählt Seghers die selbst erlebte Geschichte von der Flucht vor den Nazis nach Mexiko. Es ist eine Hom­mage an den damaligen mexikanischen Generalkonsul in Marseille, Gilberto Bosques, der vielen linken und kommunistischen Antifaschisten und Juden wie Marie Pappenheim, Hans Eisler, Bruno Frei, Egon Erwin Kisch und eben auch Anna Seghers mit einem Visa die Flucht nach Mexiko ermöglichte. »Mir geht es dabei um die Verdrehung der Vor­zeichen: An der Grenze zu Mexiko soll jetzt eine neue Mauer entstehen, und die Europäer wollen niemanden mehr reinlassen. Mit ›When We Were Young‹ will ich darauf anspielen, dass das alles noch gar nicht so lange her ist: Erinnere dich mal, du blödes Kind Europa, du bist gerade erst aus der Pubertät!«

 


Tonträger: Andreas Spechtl, »Strategies« (Bureau B / Indigo) ist bereits erschienen.