Foto: Marcel Wurm

Sichtbeton statt Gummi

 

Nur die Straßennamen und Fassadenreste erinnern noch an die ehemalige Gummiwaren-Fabrik: Das Clouth-Gelände in Nippes versammelt Luxuswohnungen und Baugruppen, die Planung gilt als vorbildlich. Doch ein Veedelsgefühl stellt sich erst allmählich ein

Die jungen Judasbäume an der Josefine-Clouth-Straße müssen noch mit Pfählen gestützt werden. »Am Anfang wirkt das ja immer noch etwas kümmerlich«, sagt Dierk Düchting, als er in der Abendsonne durch sein Viertel spaziert. Vor zweieinhalb Jahren hat er mit seiner Familie eine Wohnung auf dem Clouth-Gelände in Nippes bezogen, er wohnt nun in einem Haus mit roter Ziegelfassade direkt am Park. Die Architektur der meisten Neubauten überzeugt Düchting, der selbst Architekt ist. Ein neues Viertel wird geboren, und man selbst ist ein Teil davon — das findet er spannend. »Es ist schön zu sehen, wie hier nach und nach das Leben einzieht«, sagt Düchting. Die Straßenbäume sind noch dürr, aber sie blühen schon in dunklem Lila. Mehr als ein Jahrhundert lang war das Areal zwischen Niehler Straße und Johannes-Giesberts-Park vom restlichen Viertel abgeschot­tet. In den Clouth-Gummiwerken, wurden hinter hohen Mauern und mit viel Radau Reifen, Taucheranzüge oder Kabel hergestellt. Eine Zeitlang wurden sogar Luftschiffe gebaut. Als Ende 2005 die letzten Waren produziert wurden, war das Gelände schon seit einem Jahr im Besitz der Stadt. Sie rief einen städtebaulichen Wettbewerb für ein neues Wohn­gebiet aus. Nachdem sich kein Investor fand, übernahm 2012 der Projektentwickler Moderne Stadt, der zu etwa gleichen Teilen der Stadt Köln und den Stadtwerken gehört. Die alten Hallen wurden abgerissen, der Boden von Altlasten befreit.

 


Inzwischen sind von insgesamt 1200 Wohnungen gut 800 fertig — und wenn es um gelungene Neubaugebiete in Köln geht, wird das Clouth-Gelände gerne als Beispiel genannt. Wobei Andreas Röhrig der Begriff Neubaugebiet gar nicht behagt. »Wir haben ein gutes Quartier geschaffen«, sagt der Geschäftsführer von Moderne Stadt. »Und zwar ein gemischtes, das die umliegenden Viertel mit einbindet.« Röhrig nennt die Mischung von frei finanzierten, durchaus luxuriösen Eigentumswohnungen wie der von Dierk Düchting, sowie geförderten und »preisgedämpften« Mietwohnungen. Man habe die Eigentumswohnungen nur an Selbstnutzer verkauft und Werkswohnungen für die Mitarbeiter der Stadtwerke errichtet. Und, ganz wichtig, so Röhrig: die Häuser der zehn Baugruppen. »Über die Baugruppen hat das Quartier Identität bekommen.«
Eine dieser Baugruppen sind die »Wunschnachbarn«, die an der Straße Auf dem Stahlseil leben. In ihrem Mehrgenerationenhaus gibt es viel Sichtbeton, auch Petrolfarben sind beliebt. Das gilt auch für andere Baugruppen, wie der Blick durch die großen Fenster der anderen Häuser verrät. In der WG der Wunschnachbarn wird gerade gefrühstückt, es gibt Müsli und aufgebackene Croissants mit Aprikosenmarmelade. »Wir nennen unser Konzept Co-Housing«, sagt Peter Heinzke. Der Rentner hat früher in der Erwachsenenbildung gearbeitet. Zusammen mit drei Frauen, die ebenfalls im oder kurz vor dem Rentenalter sind, lebt er in einer geräumigen Wohnung, in der jeder ein eigenes Bad und einen eigenen Balkon hat.

 


Sie alle habe der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen hierhergeführt, sagt Heinzke, genau wie bei den sieben weiteren Parteien, die über und unter der WG leben. Fragt man die Wunschnachbarn, wie sich das Leben in einem brandneuen Viertel anfühlt, sprechen sie vor allem über gemeinsame Projekte, und wie die Nachbarschaft dadurch zusammenwachse. »Wir haben eine Reparier-Werkstatt im Haus, die freitagsnachmittags dem ganzen Veedel offensteht«, erzählt Jana Spille, die mit am Frühstückstisch sitzt und mit ihrer Familie über der WG wohnt. Die Gästewohnung im Erdgeschoss könne jeder Clouth-Bürger gegen eine Spende nutzen. Andere Baugruppen organisieren Musik- oder Filmabende in ihren Gemeinschaftsräumen.
Die Idee einer Baugruppe ist, dass sich mehrere Parteien zusammentun, um ein Haus zu planen. Sie engagieren einen Architekten, stellen gemeinsam den Bauantrag und ziehen später gemeinsam ein. Das spart Kosten, erfordert aber dennoch ein gewisses Kapital. Der Prozess ist mühsam: Das jahrelange Ringen um gemeinsame Entscheidungen stehen nicht alle durch. »Über die Baugruppen kriegt man wirklich engagierte Menschen ins Viertel«, sagt Jana Spille. Sie ist Beraterin für Organisationsentwicklung, vielleicht liegt es auch an ihrem Beruf, dass sie den Prozess gut überstanden hat. Manche von denen, die entnervt abgesprungen sind, sind am Ende trotzdem aufs Clouth-Gelände gezogen, etwa in eine der Eigentumswohnungen am Park. Dort, wo auch Dierk Düchting lebt.

 


Düchting zeigt auf die Halle 17 am Luftschiffplatz, mitten auf dem Clouth-Gelände. Wo früher Rohre und Kessel mit Hartgummi ausgekleidet wurden, befinden sich jetzt Wohnungen, eine Malschule und seit neuestem eine Bäcke­rei, das bislang einzige Geschäft im Viertel. Von den Industriebauten sind neben der Halle 17 nur zwei weitere Ge­bäu­de, die Fassaden zur Niehler Straße und die Eingangstore samt Pförtnerhäuschen erhalten. Wobei »erhalten« bei der Halle 17 bedeutet: Teile der Fassade sowie einige Stahlträger sind stehen geblieben. Dierk Düchting findet es trotzdem gut: »Ein spannender Raumeindruck!«, sagt er.

 


Zwischen Halle 17 und Niehler Straße entsteht gerade der neue Quartiersplatz, der Luftschiffplatz, mit Spielgeräten, Freiluftcafé, Bäumen und einem Rad- und Fußweg, der Nippes jenseits der Niehler Straße über das Clouth-Gelände mit dem Johannes-Giesberts-Park verbindet. An der Niehler Straße wird »Clouth 104« hochgezogen, ein Loft für Künstlerateliers, Wohnungen und Büros, in die bereits im Juli 400 Mitarbeiter der Filmgesellschaft Warner Bros. einziehen sollen. Nebenan entstehen weitere Büros und Genossenschaftswohnungen.

 


Vor allem südlich der Halle 17 weist das Clouth-Gelände typische Kennzeichen heutiger Neubaugebiete auf: boden­tiefe Fenster, flache Dächer, bauchige Grills auf Balkonen und in Gärten — und mangels hochgewachsener Hecken das Bemühen um Sichtschutz vor den Nachbarn. Am südlichen Ende des neuen Viertels stehen die teuersten aller Neubauten, die Stadthäuser Josefine Clouth. Viel Glas, viel Sichtbeton, und vor jedem Eingangstor eine kleine Felsenbirne. Belebt wirkt es hier nicht. Nur auf der anderen Straßenseite, in den alten Arbeiterhäusern der Clouth-Werke, sieht man hier und da Menschen auf der Veranda sitzen.
Größere Geschäfte wird es im neuen Viertel nicht geben, das war im Bebauungsplan so festgelegt worden. Es sollte keine Konkurrenz zu den Geschäften auf der Neusser Straße aufkommen. Doch bis dahin muss man ein gutes Stück gehen, und samstags ist es dort häufig so voll, dass man kaum einen Fuß auf den Bürgersteig bekommt. »Ohne Cafés und Lokale kann so etwas wie ein Veedels­gefühl nur schwer aufkommen«, sagt Anwohnerin Jana Spille. Auch Andreas Röhrig von Moderne Stadt gibt zu, dass man heute Quartiere im Erdgeschoss beleben muss. Möglicherweise könnten aber auch auf dem Clouth-Gelände noch ein paar kleine Geschäfte unter 100 Qua­dratmeter hinzukommen. »Einen Supermarkt wird es aber nicht geben«, sagt Röhrig.
So sorgen bisher vor allem die vielen Kinder für Veedelsgefühl. Auf den verkehrsberuhigten Straßen spielt ein Junge Basketball, ein anderer fährt Skateboard. Die jüngeren Kinder sind offenbar schon im Bett, die Spielplätze verlassen. Nur eine Krähe stakst noch durch den Sand.