Wrangler Jeans (70er Jahre), Vogelkappe (um 1900), Turnschuhe (80er Jahre). Fotos: Jürgen Hoffmann, ©LVR-Industriemuseum

Tendenziell Ja

Ein Sommerausflug ins Bergische zur ­Ausstellung »Must Have — Geschichte, Gegenwart, Zukunft des Konsums«

 

Wir sind am Ende. Jedoch nicht etwa, weil wir in Engelskirchen weilen. Die Gemeinde im Oberbergischen präsentiert sich mit ihrer Tallage im Grünen, umgeben von Rad- und Wanderwegen, als angenehmes Ausflugsziel. Vielerorts kann man einkehren, so auch, wenngleich nicht zum leiblichen Wohl, ins LVR-Industriemuseum in der einstigen Baumwollspinnerei. Just aber hier wartet das Ende, im ersten Raum der Sonderausstellung mit dem Titel »Must Have«, in Form düsterer Texte, projiziert auf abgedunkelte Wände. Adornos »Minima Moralia«-Klassiker »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen« gibt den Ton vor, konkreter werden Zitate aus »Wege aus der Wachstumsgesellschaft«, Warnungen Wolfgang Ullrichs oder die Frage des Wupper­tal-Instituts, ob Glück und Wohlergehen der Menschen davon abhängen, wie viele Güter und Dienste sie erwerben können. Ich antworte im Stillen »Tendenziell: Ja«.

 

Mögen Sie mich trotzdem begleiten? Ein breites rotes Band in gut zwei Meter Wandhöhe leitet von nun an durch die Ausstellung aus Schaukästen, Vitrinen, Artefakten, Filmausschnitten und gut zu lesenden Texten. Es wäre ein Hohn, in Engelskirchen von der Armut und Mühsal des vorindustriellen Zeitalters zu schweigen, doch schimmert eine gewisse Sehnsucht aus den nah einer ärmlichen Schüssel und eines Holzlöffels zu lesenden Worten: »Leben auf dem Land, Leben von lokalen Produkten — das war über viele Jahrhunderte für die Mehrheit der Bevölkerung selbstverständlich.« Ja, so selbstverständlich wie der Hunger. Als Friedrich Engels (der Vater) jenes Spinnwerk gründete, in dem wir nun stehen, geschah es unter anderem aufgrund des Arbeitsmangels im ländlichen Engelskirchen. Bald wurde der nun wachsende Ort im Aggertal auch Ziel der Jahrmärkte, im 19. Jahrhundert Wunscherfüller der kleinen Leute. Ein hübsches, auf einer Damenbüste drapiertes Fichu-Halstuch aus bedruckter Baumwolle symbolisiert diese Freuden der nicht mehr gänzlich trostlosen Armut. Dazu Pfeifen für den Herrn, Gesellschaftsspiele, so beginnt die Welt erschwinglichen Glücks.

 

Es bleibt Triebfeder des Konsums. Die Ausstellung thematisiert im Folgenden die massiven Begleiteffekte der industrialisierten Konsumgesellschaft. Wir sind es längst gewohnt, die Defizite der Entwicklungen zu sehen, doch durch den kritischen Tenor der Wandtexte schimmern doch maßgebliche Errungenschaften. Verbesserte Hygienestandards zum Beispiel oder die Flucht aus traditionellen Rollenzwängen. Was die ausgestellten Groschenromane von der »Prinzessin Übermut« noch als kurze Zwischenphase verorten, führt bald zu völlig neuen Lebensentwürfen. Ein kleiner Ausschnitt aus dem Film »Le Bonheur des Dames« beginnt mit jenem nahezu arche­typischen Bild der 20er Jahre: Die junge Dame mit Bop-Frisur und Beret erblickt neugierig zum ersten Mal die Großstadt. Die moralisierende Literatur jener Tage wusste: Das kann nicht gut enden. Junge, sich mit ihrem Job im Kaufhaus selbstversorgende Frauen bedrohten die Herrschaftsverhältnisse auf ganz andere Weise als die Lektüre von Marx & Engels.

 

Wie die Gründung der ersten Vogelschutzbünde auf die grausame, massenhaft in den Kaufhäusern angebotene Federhut-Mode zurückgeht, ist eine der vielen interessanten Einsichten und könnte, ob ihres einstigen Erfolgs, sogar hoffnungsvoll stimmen. Tut sie aber nicht, die massiven Probleme unserer Zeit warten. Nach der Präsentation des Konsumwunderlands der 60er Jahre vollzieht nicht nur der Parcours eine 180 Grad Wende. In weißem Ambiente dominieren nun essayistisch-pädagogische Perspektiven. Eine Aneinanderreihung konsumkritischer Der Spiegel-Titel erscheint in ihrem Alarmismus eher als unfrei­willige Selbstparodie. Wo einst beim Anblick von Umweltverschmutzung und ausbeuterischer Produktion die Systemfrage gestellt worden wäre, finden sich heute keine Patentrezepte. Dafür durchaus lehrreiche mikrosoziologische Betrachtungen individueller Fehlkäufe, kritische Anmerkungen zur Digitalisierung und ihres Energieaufwands, die Präsentation neuer Materialien sowie Hinweise auf den neuen Minimalismus. Dass dem zumeist eine Wegwerf-Arie vorangeht, bleibt unerwähnt.

 

Am Ende einer lebendigen und wohlpräsentierten Ausstellung sitzen wir dann in einem leeren weißen Raum. Der erinnert weniger an buddhistische Selbstfindung denn an die Freudlosigkeit des im Bergischen »reformiert« genannten calvinistischen Protestantismus — nur ohne Gott, aber voll moralischer Überlegenheit. Ich denke in der weißen Kammer an das Halstuch — welches Glück es geschenkt haben mag. Was hätte seine Besitzerin erwidert auf die Ermahnung, dass wir wahres Glück nur in uns selbst finden?

 

 

LVR-Industriemuseum Kraftwerk Ermen & Engels, Engels-Platz 2, 51766 Engelskirchen, Ö Di–Fr 10–17, Sa + So 11–18 Uhr, bis 27.10., Eintritt 5 / 4,50 Euro, Kinder u. Jugendliche bis 18 Jahre frei. Öffentliche Führung Sonntag 11.8. / 8.9. / 13.10. / 27.10., jeweils 15 Uhr. ÖPNV: RB 25 Köln–Meinerzhagen bis Engelskirchen