Alevitische Kinder: Erst fleißig sein, dann gibt’s Süßigkeiten; Foto: Jörn Neumann

Größe ist nicht alles

Kölner Grundschüler besuchen ihren eigenen alevitischen Religionsunterricht. Die Gemeinde hat geschafft, was den meisten Muslimen bisher verwehrt bleibt

»Frau Tosun, was ist ein Pascha?« »Ein Pascha ist ein mächtiger Herrscher. Aber jetzt lass mich weiter lesen, Egemen.« ­Fadime Tosun liest die Geschichte von Pir Sultan Abdal und Hizir Pascha vor. Die zwölf Schüler der Gemeinschaftsgrundschule Merianstraße sitzen im Stuhlkreis und hören zu, meistens. »Als Hizir aus Istanbul zurückkehrte trug er prächtige Kleider. Er lud seinen alten Lehrer Pir Sultan in seinen neuen Palast zum Essen ein, doch der lehnte ab: Wie kann ich deine köstlichen Speisen essen, wenn die Menschen draußen hungern?«

 

Pir Sultan Abdal ist einer von sieben Volksdichtern, eine alevitische Ghandi-Figur. Am Schluss der Geschichte wird er von Hizir zum Tode verurteilt. Fadime Tosun nimmt eine kleine Statue Pir Sultans aus der Mitte des Stuhlkreises und reicht sie herum, bis jedes Kind sie einmal gehalten hat. Letzte Woche haben die Kinder gesammelt, was ihnen zu den Begriffen »gut« und »böse« einfällt. »Einer, der Waffen hat« ist böse. Jetzt sollen die Kinder »gut« und »böse« Pir Sultan ­Abdal und Hizir Pascha zuordnen.

 

Seit 2008 gibt es neben evangelischem, katholischem und orthodoxem Religionsunterricht auch den der Aleviten an acht Grundschulen in NRW. Den Antrag dafür hat 2001 die Alevitische Union Europa (AABF) gestellt. Diese hat sich eine Satzung gegeben, die allen Anforderungen der deutschen Gesetzgebung für eine anerkannte Religionsgemeinschaft gerecht wird.

 

Die Landesregierung hatte zwei Gutachter beauftragt, die zum Ergebnis gelangten, dass Aleviten über ein eigenes Glaubens­be­kenntnis verfügen. Damit besitzt die AABF als Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes die Berechtigung, einen eigenen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu erteilen. Außerdem musste die Gemeinschaft eine feste Mitgliederstruktur nachweisen. »Wir repräsentieren rund 130 Ortsvereine und Gemeindehäuser«, erklärt Ismael Kaplan, Bildungsbeauftragter der in Braunsfeld ansässigen AABF.

 

Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer findet es bemerkenswert, was die Alevitische Union auf die Beine gestellt hat, weiß aber auch, dass die Politik ein Auge zugedrückt hat: »Das Problem der niedrigen Repräsentativität ist bei den Aleviten genauso gegeben wie bei den sunnitischen Verbänden. Von 400.000 bis 700.000 Aleviten, die in Deutschland leben, sind lediglich etwa 20.000 Verbandsmitglie­der.« Auf die Familien hochgerechnet seien ebenso nur zwanzig bis 25 Prozent der Sunniten organisiert, erklärt er.

 

Im Gegensatz zu den diversen sunnitischen Verbänden stellte die AABF allerdings den einzigen Ansprechpartner für die deutsche Politik dar. Außerdem dürften sich die im westlichen Sinne liberalen Wertvorstellungen des Alevitentums, nach denen zum Beispiel Frauen und Männer gleichgestellt sind und etwa auch zusammen beten, bei der Entscheidungsfindung für die AABF positiv ausgewirkt haben. »Den Aleviten«, so Kiefer, »wurde unter der Flagge der religiösen Liberalität viel Wohlwollen entgegengebracht.«

 

Was für die Aleviten in der Theorie gut klingt, ist in der Praxis nicht immer einfach: Der Unterricht an der Merianstraße in Chorweiler beginnt um 13.30 Uhr, wenn die anderen Kinder schon zu Hause oder im Offenen Ganztag sind. »Die Schüler hätten noch mehr von dem Unterricht, wenn wir ihn innerhalb der normalen Schulzeit abhalten könnten«, meint Fadime Tosun. Aber während des christlichen Religionsunterrichts steht Türkischunterricht auf dem Stundenplan.

 

Die Kinder sind trotzdem zufrieden: »Es ist gut, dass wir an unserer eigenen Schule den Unterricht haben, dann müssen wir nur in eine andere Klasse und nicht ganz spät irgendwo hinfahren«, sagt Sidem. Ihre Freundin Jasmin mag es, wenn Fadine Tosun ihnen Geschichten wie die von Pir Sultan Abdal vorliest. Alles auf Deutsch, denn die Kinder sollen lernen, ihre Kultur den Mitschülern zu erklären.

 

Auch Christentum und Judentum haben sie einmal durchgenommen: »Christen gehen in die Kirche, Juden gehen in die – äh, ich weiß nicht mehr, wie das heißt«, Dilan guckt verlegen. Zum Schluss teilt Halil Süßigkeiten aus, die Fadine Tosun mitgebracht hat. Jeder bekommt gleich viel.