Miltiadis Oulios. Foto: Dörthe Boxberg

Die Macht der Illegalisierten

Der Kölner Journalist Miltiadis Oulios hat ein lesenswertes Buch über Abschiebung geschrieben. Wir haben mit ihm über seine Forderung nach einem globalen Bürgerrecht auf Freizügigkeit gesprochen

Herr Oulios, Sie beschreiben die deutsche Abschiebepolitik als widersinnig. Warum?

 

Weil der Staat immer noch vorgaukelt, damit Zuwanderung zu kontrollieren und zu regulieren, dabei aber weiß, dass er diesen Kampf längst verloren hat. Die Horrorvorstellung von vielen Konservativen, die vor allem in den 80er und 90er Jahren für rigide Abschiebegesetze votierten, ist längst Wirklichkeit: wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft. All die Zuwanderungsgesetze und Gesetzesverschärfungen machen zwar vielen Menschen das Leben schwer, werden aber auch ständig durch real stattfindende Migration jenseits staatlicher Einflussmöglichkeiten unterlaufen. Sie konnten nicht verhindern, dass auch eigentlich unerwünschte Migranten gekommen sind.

 

Braucht der Staat ein Instrument wie Abschiebung also nur, um symbolisch seine Souveränität herzustellen, obschon er keine Kontrolle hat?

 

Auf jeden Fall. Das sieht man beispielsweise daran, dass besonders häufig und lautstark Abschiebungen gefordert werden, wenn es um so genannte Hassprediger geht. Das ist allerdings nur ein Promilleanteil der Leute, die tatsächlich abgeschoben werden. In der Realität sind vor allem Familien betroffen. Das steht aber nicht im Fokus. Stattdessen wird mit Angst gespielt. Und Angst ist ein wichtiges Instrument, um Herrschaft auszuüben. Seit ich politisch denken kann, wurde mir zum Beispiel Angst gemacht, wenn die Grenzen weiter geöffnet werden, dann droht der Untergang, Deutsch-land wird überrannt von Ausländern. Die Einwanderung hat ­tatsächlich stattgefunden, das Untergangsszenario war fern jeder ­Realität.

 

Oftmals wird bei der Begrenzung von Migration ökonomisch argumentiert: In Köln stellten CDU, FDP, SPD und Grüne im März einen Ratsantrag, in dem Einwanderung aus Bulgarien und Rumänien reduziert werden sollte. Die Begründung war, die Kommunen könnten die durch die Migranten entstehenden Kosten nicht stemmen. Was sagen Sie zu so einer Argumentation? 

 

In einer Stadt, in der die Korruption und das Finanzgebaren der Stadtsparkasse Kosten für die Allgemeinheit in dreistelliger Millionenhöhe verursacht haben, damit zu argumentieren, dass Migrantengruppen Kosten verursachen, ist ein schlechter Witz. Wenn Geld gebraucht wird, was ja durchaus der Fall sein kann, dann muss der Bund den Kommunen helfen. Stattdessen wird versucht, Migranten zu stigmatisieren und Freizügigkeitsrechte zurückzunehmen.

 

Sie nennen Abschiebung eine Blackbox, weil der Staat versucht, diese Praxis möglichst unsichtbar zu halten. Warum hat der Staat daran ein Interesse?

 

Weil Behörden und Politiker wissen, dass Abschiebungen dem Selbstbild unserer weltoffenen Gesellschaft widersprechen. Praktisch gesehen ist Abschiebung nichts anderes als die Umsetzung der rechtsradikalen Parole »Ausländer raus!« Und natürlich weiß man auch, dass man Menschen enormes Leid zufügt, wenn man sie abschiebt, oder jahrelang in der Schwebe lässt. Deswegen will man das nicht allzu öffentlich werden lassen. Wenn morgens die Polizei ausrückt, um eine Familie aus dem Bett zu holen und in Handschellen zum Flughafen zu bringen, ist das ja fürs Image nicht förderlich.

 

In Köln gab es im März polizeiliche Übergriffe gegen Demonstranten der »Refugees’ Revolution Bus Tour«. Und zuletzt ging die Polizei in München sehr strikt gegen hungerstreikende Flüchtlinge vor. Warum reagiert der Staat auf die Proteste mit Repression?

 

Der Staat hat Angst vor der Macht der Illegalisierten. Denn die engagieren sich unbedingt für ihre Freiheit. Denen wird maximal zugestanden, dass sie sagen: mir ist es schlimm ergangen, gebt mir doch bitte Asyl! Aber die wollen das gar nicht, die wollen normale Menschen sein, mit dem unbedingten Recht, in Deutschland zu leben. Und dann wollen die auch noch andere mobilisieren und aus den Heimen rausholen, marschieren durch halb Deutschland und gehen ständig an die Öffentlichkeit. Sie thematisieren nicht ihr individuelles Leid, sondern fordern allgemeine Rechte für alle. Damit machen sie das zu einer politischen Frage, und das will die Politik verhindern.

 

Auch Sie wurden bei der Recherche damit konfrontiert. Sie wollten eine junge Kosovarin inter­viewen, die in der Justizvollzugsanstalt Ossendorf saß und abgeschoben wurde, durften aber nicht.

 

Die haben mich wochenlang hingehalten, bis ich irgendwann mit Hilfe des Deutschen Journalistenverbandes das Interview eingeklagt habe. Dann bekam ich einen Tag vor dem Interview und zwei Tage vor dem Abschiebetermin per Fax einen handgeschriebenen Satz der Frau, in dem sie erklärte, dass sie das Interview nicht führen möchte. Ich bin dann als gewöhnlicher Besucher zu ihr gegangen, und da sagte sie mir, dass Sozialarbeiter ihr gesagt hätten, das sei nicht gut für sie, ein Interview zu führen. Das ist eine Verhinderung von Öffentlichkeit.

 

Nicht die Forderung nach einem Abschiebestopp aus humanitären Gründen, sondern der Kampf um ein globales Bürgerrecht auf Migration steht im Mittelpunkt Ihres Buches. Den antirassistischen Slogan »Abschiebung ist Folter, Abschiebung ist Mord« kritisieren Sie, weil er zu wenig zur Sprache bringe. Was fehlt?

 

Dieser Slogan thematisiert nur das Leid, nicht aber, dass Abschiebung auch eine Demonstration der Ohnmacht des Staates ist. Er schiebt zwar ein paar Leute ab, aber ganz viele Menschen kann er nicht loswerden. Dieses Moment der Stärke greift der Slogan nicht auf. Aber genau das müssen wir machen, wir müssen eine politische Sprache finden, die ganz selbstbewusst formulieren kann, dass sich Menschen bereits das Recht genommen haben, in Deutschland zu leben. Das muss als Ausgangspunkt einer Argumentation gegen Abschiebung dienen.

 

Sie wenden sich also gegen die Kritik an Abschiebung aus humanitären Gründen und sagen stattdessen: Wir müssen politisch argumentieren.

 

Bei der humanitären Argumentation geht es nicht darum, dass Menschen nicht abgeschoben werden, sondern — zynisch formuliert — darum, dass sie möglichst lebendig ankommen. Die humanitären Diskurse können nicht zur Sprache bringen, dass bestimmte Menschen schon etwas praktizieren, was es noch gar nicht in institutionalisierter Form gibt: ein globales Bürgerrecht auf Freizügigkeit für alle. Die Geflüchteten-Proteste, die jetzt zuletzt mit dem Hungerstreik in München Aufsehen erregt haben, die haben das ja schon formuliert, indem sie das Menschenrechtsregime, diesen ganzen humanitären Diskurs, als einen Container bezeichnen, in dem sie festgehalten werden. Niemand möchte nur auf das Mitleid der anderen angewiesen sein, denn dann hast Du eigentlich schon verloren, dann bist Du Bürger dritter Klasse. Es gibt aber eben etwas, das diese Menschen praktizieren, und das ist der Umstand, dass sie hier sind, obwohl man sie los werden will. Sie tun einfach so, als gäbe es schon ein globales Bürgerrecht. Damit überschreiten sie die Grenzen des Nationalstaats.

 

Wir sollten ein Zukunftskonzept formulieren, das die Mobilität der Menschen anerkennt und ihr Recht darauf garantiert, schreiben Sie gegen Ende des Buchs. Wie könnte dieses Konzept aussehen?

 

Das sind natürlich politische Prozesse, die lange dauern. Aber wir sind an einem historischen Zeitpunkt, wo wir das verfolgen müssen. Das Recht auf Freizügigkeit muss auf staatlicher und internationaler Ebene anerkannt werden. Abschiebung gab es schon lange, aber das »Wer« und das »Warum« war immer schon variabel. Früher konnte man als Deutscher innerhalb Europas aus einer Stadt in die andere abgeschoben werden. Heute ist das für EU-Bürger selbst innerhalb Europas kaum noch möglich. Es gibt also Beispiele, dass sich Territorien erweitern können, in denen auf Abschiebungen verzichtet wird, ohne dass eine große Krise ausbricht. Statt neuer Freihandelsabkommen müssen wir Abkommen über die Freizügigkeit von Menschen formulieren.