100 Tage Schweigsamkeit

Der NSU-Prozess ist das wichtigste Gerichtsverfahren Deutschlands. Aber seine Erkenntnisse über das Netzwerk des NSU sind bislang spärlich. Die Initiative »Keupstraße ist überall« will das ändern. Ein Besuch an einem Prozesstag in München

Früh aufstehen dank Sparticket. Es ist viertel vor neun, der Bahnsteig in Deutz ist gut gefüllt: Geschäftsreisende, Studierende und ein paar Mitglieder der Initiative »Keupstraße ist überall«. Mit dabei sind Mitat Özdemir, Vorsitzender der IG Keupstraße und Nebenkläger Muhammet Ayazgün, dessen Café an der Keupstraße liegt. Ayazgün erzählt von den Kommunalwahlen in der Türkei, Mitat Özdemir redigiert einen Text. Er soll in einem Buch erscheinen, dass zum zehnten Jahrestag des Bombenanschlags auf die Keupstraße veröffentlicht wird. Alle sind müde, aber die Stimmung ist gut. Heute ist ein besonderer Tag. »Keupstraße Mühih’e geliyor« — »Die Keupstraße kommt nach München« — unter diesem Titel hatte die Initiative am Vorabend des 100. Verhandlungstages im NSU-Prozess ins Münchener DGB-Haus geladen, um ihre Pläne vorzustellen. Im Sommer, wenn der NSU-Prozess im München verhandelt wird, will mit einem Bus zum Prozess kommen.

 

120 Leute sind am Abend ins DGB-Haus gekommen, um die Geschichte und Pläne der Keupstraßen-Initiative zu hören. In der ersten Reihe sitzt Paul Elmar Jöris, Terrorismusexperte der ARD, macht sich Notizen und wirft ein wenig Geld in die Spendendose. »Die Keupstraße ist eine kleine, friedliche Straße«, berichtet Mitat Özdemir auf dem Podium. »Heute ist der Frieden ein verletzter.« Er lebe 47 Jahre in Deutschland, habe Vertrauen in die Gesetze gehabt. Aber seit dem Bombenanschlag sei Deutschland für ihn nicht mehr das gleiche gewesen. »Wir wussten von Anfang an, dass das ein fremdenfeindlicher Anschlag war. Aber das wollte man nicht hören. Wir sollten uns gegenseitig beschuldigen.« So verliefen auch die Ermittlungen — nicht nur an der Keupstraße, sondern auch beim Bombenanschlag auf einen Kiosk an der Propsteigasse im Jahr 2001. »Ein Polizeibeamter fragte mich kurz nach dem Anschlag: ›Haben sie einen Perser gesehen?‹ Und ich habe zurückgefragt: ›Meinen Sie einen Teppich oder einen Menschen?‹«, erzählt Kutlu Yurtseven, dessen Band Microphone Mafia damals an der Propsteigasse ihr Studio hatte, auf dem Podium. »Viele der Geschädigten von der Keupstraße sagen, es kann nicht sein, dass drei Nazis aus Thüringen die Anschläge in der Keupstraße und der Propsteigasse alleine begangen haben«, berichtet der Historiker Massimo Perinelli. »Sie sagen: ›Das muss mit staatlicher Unterstützung geschehen sein‹. Damals, zur Zeit der Anschläge, wie auch heute das Wissen in den migrantischen Communities weggewischt wird.« Diese Tendenz setze sich bis heute auch unter Linken fort. Anstatt gemeinsam mit Migranten zu handeln, beschäftige sich auch die Linke — siehe den Theorieboom von »Critical Whiteness« — lieber mit ihrem eigenen Rassismus.

 

Im Verlauf der Diskussion wird deutlich, was die Initiative »Keupstraße ist überall« so außergewöhnlich macht. Migranten und politisch organisierte Linke versuchen, eine gemeinsame Perspektive auf die NSU-Attentate zu entwickeln und die etablierten Fakten in eine neue Erzählung einzubetten. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf dem Bombenanschlag selbst, sondern auch auf seiner Deutung durch Dritte: die Polizei, die Medien und auch die deutsche Linke selbst. Schließlich war ein Missverständnis der Auslöser der Initiative. 2011 wollten linke Gruppen nach den Enthüllungen über den NSU eine Demo entlang der Keupstraße veranstalten. »Das geschah ohne unser Wissen und über unsere Köpfe hinweg«, erzählt Mitat Özdemir. »Das waren alles ›Bio-Deutsche‹. Ich habe gesagt: ›Das geht nicht. Sprecht mit uns!‹«. Aus der Demo wurde eine Filmreihe in Restaurants auf der Keupstraße, die den Rassismus in Deutschland nach 1989 thematisierte und die schließlich in der Initiative »Keupstraße ist überall« mündete. »Es ist falsch, die Migranten als ›Opfer‹ zu beschreiben«, sagt Massimo Perinelli. »Sie handeln und reagieren auf das, was mit ihnen gemacht wurde. Und dass wir heute hier sitzen, ist ein Teil davon.« Terrorismusexperte Jöris hat zu diesem Zeitpunkt den Saal schon verlassen.

 

Große Erwartungen an den NSU-Prozess äußert an diesem Abend niemand. Zu ernüchternd waren die bisherigen 99 Verhandlungstage. Der Kieler Anwalt Alexander Hoffmann, der eine Nebenklägerin aus der Keupstraße vertritt, geht sogar weiter: »Im Moment rennen wir den Nazizeugen hinterher, die sagen ›Nö, haben wir vergessen‹ und die Bundesanwaltschaft lässt sie vergessen.« Der Strafprozess arbeite eine Anklageschrift ab, bei der es um eine terroristische Vereinigung gehe und in der ein Richter ohne »Aufklärungsgelüste« den Prozess führte. »Hier soll eine minimale Gruppe NSU angeklagt werden, und wenn wir die verurteilt haben, ist die Sache beendet. Das ist das Ziel der Anklage«, sagt Hoffmann.

 

Am nächsten Tag zeigt sich im Prozess, was er damit meint. Es ist der 100. Verhandlungstag, ein symbolträchtiges Datum. Die Zuschauertribüne ist voll besetzt, unsere Gruppe ist früh am Gericht. Hinzugekommen ist Thomas Laue vom Schauspielhaus Köln, der für sein Stück über die Keupstraße recherchiert. Der Gerichtssaal ist klein, die Sicht beschränkt: Richter, Generalbundesanwalt und Beate Zschäpe sind gut zu erkennen, die Zeugen teilweise verdeckt. Die Nebenkläger samt Anwälten werden per Video an die Wand geworfen. Auch die Pressetribüne ist gut gefüllt: Spiegel, ARD, zwei Vertreter türkischer Medien, dazwischen die Leute von NSU-Watch. Die Münchener Gruppe beobachtet den Prozess und fertigt Wortprotokolle an. »Wir produzieren pro Prozesstag vierzig bis sechzig Seiten Text«, berichtet Alia Sembol. »Wir machen die Arbeit, die eigentlich das Gericht machen sollte.« Der NSU-Prozess wird nicht im Wortprotokoll festgehalten, sondern nur in kurzen Zusammenfassungen — anders als zum Beispiel Nürnberger Prozessen oder auch der Stammheimer RAF-Prozess, von denen umfangreiche Mitschriften
existieren.

 

Als erster tritt an diesem Tag Reiner Bode, ehemaliger Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes, in den Zeugenstand. Bode ist ein V-Mann-Führer, er war zuständig für den Neonazi Tino Brandt. Brandt ist eine Schlüsselfigur im NSU-Umfeld, er baute in den 90er Jahren die Nazigruppe »Thüringer Heimatschutz« auf, unterstützte das NSU-Trio im Untergrund. Zeitgleich war er Spitzel für den Verfassungsschutz, ein »Spitzenverdiener« wie Reiner Bode sagt. 200 bis 400 DM habe er pro Woche für seine Spitzeltätigkeit erhalten — »plus Zusatzprämien.« Schließlich wurde Brandt vom Verfassungsschutz entlassen. Er sei »zu prominent« geworden. Bode spricht, wie man es sich bei einem Beamten vorstellt. Er sagt »Spürvorrichtung« anstatt »Peilsender«; wenn er seine Arbeit beschreiben soll, verwendet er den internen Namen der Abteilung oder eine Dienstnummer. An entscheidenden Stellen entschuldigt er sich: »Ich weiß es nicht mehr«, »Ich hatte keine Gelegenheit, Akten einzusehen« oder »Ich kann nicht mehr sagen, ob das meine Erinnerung ist oder aus Medienberichten kommt.« Das Erstaunliche an seinem Auftritt sind jedoch die Fragen des Vorsitzenden Richter Manfred Götzl. Hat Brandt das Geld für den Aufbau des »Thüringer Heimatschutz« verwendet? Ist das Geld eventuell sogar zum NSU selbst weitergeleitet worden? All das sind Fragen, die eventuell wichtig sein könnten, wenn es darum geht zu bestimmen, wie weit der NSU reichte und wer ihn ermöglicht hat. Aber Götzl stellt sie nicht. Stattdessen gibt er sich mit den Entschuldigungen von Bode zufrieden. »Die Frage ist ja, an was Sie sich erinnern können«, sagt er kurz vor Ende der Vernehmung und es klingt ein wenig resigniert. »Es gibt eine Arbeitsteilung«, erläutert Alia Sembol von NSU-Watch. »Der Prozess dient allein der Strafverfolgung, die politische Aufklärung sollte in den parlamentarischen Ausschüssen passieren.« Konkret bedeutet das: Die Reichweite der Thüringer Neonaziszene, ihre Zusammenarbeit mit den Behörden spielt bei der Münchener Verhandlung keine Rolle, was nicht nur von NSU-Watch, sondern auch von den Anwälten der Nebenklage immer wieder kritisiert wird.

 

Es liegt daher bei den Anwälten, Beweise und Fragen in den Prozess einzubringen, die über die relativ eng definierte Anklage hinausgehen. Es ist ein kleinteiliges Unterfangen. Gül Pinar, die Anwältin des ermordeten Hamburger Lebensmittelhändlers Süleyman Tasköprü, will Fotos eines Rudolf-Heß-Gedenkmarsches, auf denen Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zu sehen sind, als Beweise aufnehmen. Es folgt ein Geplänkel zwischen Generalbundesanwaltschaft, Richter Manfred Götzl und Zschäpe-Anwältin Anja Sturm, die unbedingt die Quelle der Fotos wissen will. Es zieht sich zehn Minuten hin. »Ich finde, das Verfahren verläuft sehr zügig«, meint Berthold Fresenius, dessen Kanzlei Muhammet Ayazgün als Nebenkläger vertritt, beim Mittagessen. Muhammet Ayazgün und Mitat Özdemir geben in der Zwischenzeit ein Interview nach dem anderen. Jeder, selbst der türkische Konsul, will mit den Menschen von der Keupstraße reden, die sich auf den Weg nach München gemacht haben. Vor dem schmucklosen Gerichtsbau ist die Stimmung derweil entspannt. Niemand beachtet mehr die Korrespondenten, die ihre Berichte absetzen. Nur vier Hells Angels fallen auf, weil sie demonstrativ im Eingang der Kantine rauchen. Später finden sie die richtige Eingangstür zu ihrem Verfahren nicht.

 

Am Nachmittag sitzt Thomas R. im Zeugenstand. Der 44-jährige Chemnitzer versteckte das NSU-Trio nach seinem Untertauchen im Jahr 1998. Er trägt Latzhose und ein schwarz-weißes Oberteil — das Gleiche wie Beate Zschäpe. Am Vormittag starrte sie noch auf ihren Laptop, die Vernehmung ihres Komplizen verfolgt sie aufmerksam, sucht Blickkontakt, nickt unauffällig oder schüttelt sanft den Kopf. Thomas R. gibt sich wenig auskunftsfreudig. »Die haben geklingelt, gefragt, ob sie bei mir übernachten dürfen und dann habe ich ›Ja‹ gesagt«, beschreibt er die Ankunft der NSU-Terroristen in seiner Wohnung. »Die anderen Nazis haben sich genau so verhalten«, berichtet meine Sitznachbarin, die den Prozess häufiger besucht. Richter Götzl ist geduldig und hartnäckiger als am Vormittag. Er fragt immer wieder Details ab. Stößt er auf Ausflüchte oder ›Erinnerungslücken‹, wechselt er das Thema, nur um einige Zeit später zu seiner ursprünglichen Frage zurückzukehren — diesmal mit Erfolg. Langsam fallen erste Namen, schließlich geht es um R.s Kontakte zum Nazi-Netzwerk »Blood & Honour«. »Dazu will ich nichts sagen«, entgegnet R., denn deswegen sei ein Strafverfahren in Dresden anhängig. Richter Götzl weiß davon nichts. Auf der Tribüne macht sich Unruhe breit. Im wichtigsten Prozess der deutschen Gegenwart ist nicht bekannt, ob ein Zeuge von seinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch machen kann? Eine kurze Unterbrechung später ist der Vorfall geklärt: Das Verfahren wurde eingestellt, R. darf aussagen. Aber seine Taktik ist aufgegangen, Götzl beendet die Vernehmung für heute.

 

Wir machen uns auf den Weg zurück nach Köln. »Es ist besser gelaufen, als ich gedacht habe«, resümiert Mitat Özdemir, bevor er mit Thomas Laue in ein langes Gespräch über die Keupstraße, Mülheim und sein Verhältnis zum Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs fällt. Irgendwann kommt ein türkischstämmiger Snackverkäufer dazu, nimmt seine Pause und unterhält sich mit uns. Wir reden über Erdogan, den Koran und über Köln, seine Heimatstadt. »Ich könnte nirgendwo anders leben«, sagt er enthusiastisch. Der NSU und seine Bombe — ihn haben sie nicht kleingekriegt. Die Keupstraße erst recht nicht.