Auf die Straßen! | Borja Royo Vallés

Anzeige gegen Schwarmintelligenz

Seit fünf Jahren gibt es in Köln die Fahrradtour Critical Mass.

Jetzt hat sie Ärger mit der Polizei

 

26. Juni, schönstes Radwetter. Es ist Critical Mass und 900 Menschen fahren mit dem Rad durch Köln — so viele wie noch nie. Später kommt die Polizei dazu. Mit mehreren Wagen begleitet sie den Zug der Radfahrenden, filmt an manchen Stellen und versucht, den Fahrradtross in bestimmte Straßen zu lenken. Auch Marco Laufenberg, Fahrradaktivist und Betreiber des Watchblogs »Radfahren in Köln«, war im Juni — wie so häufig — auf der Critical Mass. Wenige Tage später erhielt er eine Anzeige von der Polizei. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Versammlungsrecht. Die Polizei behauptet, man habe ihn durch die Aussagen einiger Teilnehmender eindeutig als Organisator der Veranstaltung ausmachen können.

 

Ob es zu einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft kommen wird, steht noch nicht fest. Klar ist jedoch, dass die Kölner Behörden die Critical Mass aufgrund ihrer politischen Meinungsäußerung als eine anmeldepflichtige Veranstaltung werten. Damit müsste sie laut geltendem Recht einige Auflagen erfüllen, etwa die Route vorab mit der Versammlungsbehörde absprechen und einen Versammlungsleiter bestimmen. Punkte, die dem Prinzip der Critical Mass grundlegend widersprechen.

 

Denn die nutzt für ihre Organisation vor allem ein Phänomen, das als »kollektive Intelligenz« oder »Schwarmintelligenz« bezeichnet wird. Die Critical Mass, so heißt es auf der Kölner Website, ist »ein organisierter Zufall«. Über andere Teilnehmende und Social-Media-Kanäle erfahren Menschen von der Radtour durch die Stadt. Wo genau die Tour entlangführt, entscheidet, wer an der Spitze der Critical Mass fährt. Marco Laufenberg fasst dies so zusammen: »Wenn ich Veranstalter der Critical Mass sein soll, dann ist es auch die Person, die im Büro ruft: ›Freitag, halb sechs, Rudolfplatz! Wer kommt mit?‹«

 

Die Kölner Polizei sieht das anders. »Für Zusammentreffen, die nach eingehender Prüfung als Versammlung gewertet werden, gelten die Vorgaben des Versammlungsgesetzes«, sagt Pressesprecher André Faßbender. Die Beamten, die am 26. Juni im Dienst waren und in Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft die Critical Mass als Veranstaltung beurteilten, seien in der Pflicht gewesen, die Sache zur Anzeige zu bringen — andernfalls hätten sie sich selbst strafbar gemacht.

 

»Das ist die Zur­schaustellung eines Lebensgefühls«

 

Auch in Hamburg-Harburg wurde Ende September vergangenen Jahres Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Ein Grüppchen von fünfzig Personen, darunter auch viele Eltern mit ihren Kindern, starteten nach Feierabend die erste Critical Mass südlich der Elbe. Und in Stuttgart haben sich die Radfahrenden nach jahrelangem Druck der Behörden dazu entschieden, die Critical Mass künftig anzumelden und den Konflikt mit der Verkehrspolizei vorerst aus dem Weg zu gehen — auch wenn dadurch, so heißt es in einer Stellungnahme auf der Website, »die subversive Grundhaltung der Critical Mass ein wenig aufgeweicht wird«.

 

Für Marco Laufenberg ist die Anmeldung der Kölner Critical Mass keine Option. Er verweist auf Paragraf 27 in der Straßenverkehrsordnung, nach dem mehr als fünfzehn Radfahrende einen geschlossenen Verband bilden können. Für den gelten dann ähnliche Regeln wie für einen Sattelzug: Es muss in einem Zug über eine Kreuzung gefahren werden, selbst wenn die Ampel auf Rot schaltet; links abbiegen geht nur, wenn die Lücke im Gegenverkehr für den ganzen Verband ausreicht. Und auch die Sichtweise der Polizei, nach dem es sich bei der Critical Mass um eine politische Meinungsäußerung handele, betrachtet Marco Laufenberg als unberechtigt. »Sicherlich gibt es einzelne Teilnehmende, die die Radtour nutzen, um Forderungen nach einer fahrradfreundlicheren Stadt zu stellen«, sagt er. »In erster Linie ist die Critical Mass aber eine Zurschaustellung eines Lebensgefühls, die dem reinen Vergnügen dient.« Auch am 26. Juni waren kaum Transparente oder Plakate mit politischen Forderungen zu sehen, sondern vor allem eines: kunstvoll verzierte Rikschas, elegante Fixies, tätowierte Muskelpakete auf Chopper-Bikes und eine Menge gut gelaunter Menschen. Manchmal, so weiß es die kollektive Intelligenz, reicht eben auch ein Fahrrad und eine gehörige Portion Velo Love, um zu protestieren.