Absurdität des Alltäglichen: In diesem Innenhof wurde einst Göring empfangen, 1964 ließ Wellershoff hier Rolf Dieter Brinkmann lesen | Foto (Ausschnitt) privat

Die Bücher der frühen Jahre

Dieter Wellershoff feiert im November seinen neunzigsten Geburtstag. Bevor er als Prosa-Autor durchstartete, prägte er als Lektor von Kiepenheuer & Witsch das intellektuelle Klima der BRD. Ein Rückblick auf die ungemein produktiven 60er Jahre

Wellershoffs Name ist aus dem Literaturzirkus nicht mehr wegzudenken, obwohl er dort erst spät Einstieg gefunden hatte. 1952 hatte er dem Verlag Kiepenheuer & Witsch seine Doktorarbeit sowie einige Artikel und Gedichte zugeschickt. Vier Jahre später notierte der Verleger Joseph ­Caspar Witsch nach einem gemeinsamen Treffen, Wellershoff mache »einen unterrichteten und problemspürenden Eindruck. Vermutlich kann er auch schreiben«. 1958 erschien Wellershoffs erste größere Arbeit »Gottfried Benn, Phänotyp dieser Stunde« bei KiWi und erhielt glänzende Kritiken. Im Jahr darauf bot Witsch seinem Autor an, eine eigene Wissenschaftsabteilung aufzubauen: »Er fragte mich, ob ich mir das zutraute, und obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich das machen solle, sagte ich Ja«, erinnert sich Wellershoff im Gespräch.

 

Der literarische und geisteswissenschaftliche Kosmos, den Dieter Wellershoff in den folgenden Jahrzehnten schuf, umfasst ein großes Werk: Prosatexte, Essays und biografische Werke stehen neben journalistischen Arbeiten, Hörspielen und Drehbüchern. Jetzt, am 3. November, feiert er seinen neunzigsten Geburtstag.

 

Wellershoff hatte Germanistik, Kunstgeschichte und Psychologie an der Universität Bonn studiert und verfügte als Redakteur der bundesweiten Deutschen Studentenzeitung über weitreichende Kontakte zum akademischen Nachwuchs. Nach Beratungen mit drei der aufstrebenden Stars des akademischen Betriebs — dem Soziologen Jürgen Habermas, dem Historiker Hans-Ulrich Wehler und dem Germanisten Eberhard Lämmert — implantierte er der deutschen Wissenschaftspublizistik ein bis dahin nur aus amerikanischen und britischen Hochschulen bekanntes Produkt: den Wissenschaftsreader, eine Sammlung von ­Primärtexten, die wichtige Debatten eines Fachs für Studierende zu­sammenfasste.

 

Diese Paperbacks firmierten im Verlag unter Neue Wissenschaftliche Bibliothek (NWB), hatten einen Umfang von je 400 bis 600 Seiten und wurden von einem Herausgeberkollegium betreut. Die redaktionelle Verantwortung blieb bei Wellershoff. KiWi brachte die Bände in knallgelben Umschlägen auf den Markt, ein Novum unter den bis dato mausgrauen Wissenschaftsschriften. Bis 1977 wuchs die NWB auf stattliche neunzig Bände an, darunter Longseller wie Andreas Hillgrubers Sammlung »Probleme des Zweiten Weltkrieges« oder Ernst Noltes Band »Theorien über den Faschismus«. Die Reihe wurde später noch um eine Studien-Bibliothek ergänzt, in der Standardtexte wie Hans-Ulrich Wehlers »Bismarck und der Imperialismus« oder David S. Landes’ Studie »Der entfesselte Prometheus« über den technologischen Wandel in Westeuropa erschienen. Die in leuchtendem Rot gehaltene Reihe brachte es auf 47 Bände.

 

Erst in den späten 70er Jahren fanden beide Reihen ein Ende, nachdem der Fotokopierer zu sinkenden Verkaufszahlen geführt hatte. ­Reinhold Neven DuMont, Schwiegersohn von Witsch und dessen Nachfolger an der Verlagsspitze, verkaufte die Gesamtrechte an den Athenäum-Verlag und gab den Wissenschaftszweig auf.

 

»Wellershoff macht einen unterrichteten und problem­spürenden Eindruck.
Vermutlich kann er auch schreiben«

 

Dieter Wellershoffs Aktivitäten hatten sich da längst verlagert. Witsch hatte ihn schon kurz nach seinem Einstieg als Wissenschafts­lektor zusätzlich mit dem Neuaufbau des Lektorats für deutschsprachige Lite­ratur betraut, eine Arbeit, die viel Energie beanspruchte. »Da lag ­vieles brach«, stellte Wellershoff rasch fest, »außer Heinrich Böll und ­Gerhard Zwerenz gab es keine nennenswerte deutsche Gegenwartslite­ratur.« ­Wellershoff ging die neue Aufgabe ebenso strategisch an wie den Aufbau des Wissenschaftssegments. »Ich wollte nichts Beliebiges ma­chen, nicht dieses und jenes, wie es sich gerade bot und modisch war: keine metaphysischen Modelle des menschlichen Daseins in mißverstandener Kafka-Nachfolge, keine grotesken Schelmenromane, keine abstrakten Sprachexperimente im Gefolge der sogenannten Konkreten Poesie«, schrieb er 2006. Stattdessen habe ihm »Literatur als ein Erfahrungs­prozeß zur Vertiefung und Erweiterung der Wahrnehmung des Lebens vorgeschwebt, Schreibweisen, die die Schablonen unserer Gewohn­heiten und des vermeintlichen Bescheidwissens auflösten und die Fremdheit der Welt wiederherstellen, ihre Dichte, ihre Dinglichkeit, die Absurdität des Alltäglichen.«

 

Den ersten Niederschlag dieses am Nouveau Roman orientierten Programms bot die Anthologie »Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema« (1962). Wellershoff hatte dafür dreißig junge Autorinnen und Autoren um Texte gebeten. Sechs von ihnen fanden mit ihren Erzählungen schließlich Eingang in den Band, darunter Günter Seuren und Rolf Dieter Brinkmann. Im Sommer 1964 stellte er seine neuen Hoffnungsträger seinem Verleger vor: »Ich habe gewusst, ich muss die dem Verlag als eine Gruppe präsentieren und auch als ein Gesamtkonzept.« Als Präsentationsort, an dem nach dem Vorbild der Gruppe 47 vor kritischem Publikum gelesen wurde, hatte sich Wellershoff das idyllische Eifeldorf Kronenburg ausgesucht. Fotografien zeigen mehr als zwanzig Teilnehmende, die sich in einem mittelalterlich anmutenden Innenhof einer klosterähnlichen Anlage versammelt haben, darunter Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann oder Tankred Dorst. Wellershoff leitete das Treffen, als Zuhörer dienten Witsch, Heinrich Böll und weitere Verlagsmit­arbeiter. Das nebenstehende Bild zeigt Wellershoff zusammen mit Rolf Dieter Brinkmann.

 

Das sonnige Juniwochenende in der Eifel kann als die Geburtsstunde der »Kölner Schule des Neuen Realismus« gelten. Offensichtlich hatten die versammelten Autorinnen und Autoren, die Wellershoffs Programm der »Erweiterung der Wahrnehmung« folgten, den Ort ihrer Zusammenkunft beim Durchdringen der »Absurdität des Alltäglichen« jedoch ausgespart. Über der Eingangstür ihrer Herberge war die Jahreszahl »1937« mit dem Kürzel »WP« eingraviert. Bis Kriegsende hatte das Haus dem Monumentalmaler und Professor der Düsseldorfer Kunstakademie Werner Peiner gehört. In eben jenem Innenhof hatte der Malerfürst rund 25 Jahre vor dem Schriftstellertreffen seinen Mäzen Hermann Göring hofiert sowie Goebbels, Himmler und Speer empfangen. Hier waren großformatige Vorlagen für Tapisserien entstanden, die anschließend die Neue Reichskanzlei in Berlin wie Görings Privatresidenz Carinhall oder die NS-Ordensburg Vogelsang »schmückten«. Für die Autoren der Kölner Schule des Neuen Realismus war all das keine Aufmerksamkeit wert. Günter Seuren schwärmte stattdessen später in der Welt geschichtsvergessen von dem »winzigen Eifelflecken mit phlegmatischen Hühnern« und von »Dohlen im Turm der benachbarten Kapelle«.

 

In den Feuilletons stieß Wellershoffs literarischer Aufbruch zunächst auf lebhafte Resonanz. Auf längere Sicht dürfte der Einfluss der Kölner Schule jedoch eher gering zu veranschlagen sein. Zufall oder nicht — als Hans Schwab-Felisch 1974 in der FAZ die vergangenen 25 Jahre des Verlags Kiepenheuer & Witsch Revue passieren ließ, erinnerte er auch an die »unter dem strengen Regiment von Wellershoff« entwickelte »neue Phase des Verlages in der Belletristik«. Der korrekte Begriff dafür fiel ihm da aber bereits nicht mehr ein. Schwab-Felisch handelte sie unter »Kölner Radikalismus« ab.

 

Kiepenheuer & Witsch konnte die hoffnungsvolle Autorenschar um Brinkmann, Seuren, Born oder Günter Herburger letztlich nicht halten. Sie suchten woanders nach Erfolg, als Wellershoff seine eigenen literarischen Ambitionen immer stärker gewichtete. Für den Lektor Wellershoff hatte da bereits die Metamorphose zu einem der produktivsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur begonnen.

 


Der Beitrag fußt auf Recherchen, die unser Autor bei der Abfassung einer zweibändigen Biografie über Joseph Caspar Witsch angestellt hat. Der zweite Band ist gerade erschienen: »Dem Glücksrad in die Speichen greifen. Joseph Caspar Witsch, seine Autoren, sein Verlagsprogramm und der Literaturbetrieb der frühen Bundesrepublik«, Kiepenheuer & Witsch, 608 Seiten, 29,99 €.