Atmosphärische Lokalfolklore: »Dachra«

Remmi-Demmi auf hohem Niveau

Olaf Möller empfiehlt fünf transgressive Seh­erfah­rungen des diesjährigen Fantasy Filmfests

1. »Charlie Says«

(USA 2018; Mary Harron)

Nach der Venedig-Weltpremiere des Films im vergangenen Herbst fühlten sich viele Rezensenten bemüht darauf hinzuweisen, dass Quentin Tarantinos Nächster ja dasselbe Thema behandeln werde: Charles Manson und das Tate-Massaker. Und dass da sicherlich mehr rauskommen würde als bei dieser gestalterisch kompakten, uneitlen Arbeit. Nun, jetzt ist »Once Upon a Time in Hollywood« (2019) da und ungleich besser als ihn viele in Cannes machten... oh Ironie! Aber über Manson hat immer noch Harron mehr zu sagen. Dabei steht Manson hier wie bei Tarantino nicht im Zentrum der Geschichte — die dreht sich um jene jungen Frauen, welche auf sein Geheiß fünf Menschen umbrachten. Mit einem bezwingend lehrstückhaften Gestus irgendwo in der Mitte zwischen Hollywood-Klassizismus und Brecht demonstriert »Charlie Says«, wie aus drei unsicheren Spät-Teenagern Massenmörder wurden: nämlich weil es ihnen egal war, dass ein Faschist sie zu seinen willigen Helfern abrichtete. Ganz großes Meisterwerk!


2. »Kingdom«

(J 2019; Shinsuke Sato)

Der Kino- und Heimmedienmarkt in der Volksrepublik China ist mittlerweile so lukrativ, dass immer mehr ausländische Produktionen entweder die dortigen Sensibilitäten berücksichtigen, oder sich gleich Geschichten vornehmen, die dort situiert sind. Bevorzugt behandeln sie die fernere Vergangenheit, wie etwa »Kingdom«. Shinsuke Satos Adaption der gleichnamigen Manga-Serie spielt zur Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr) und erzählt mit wahnwitzigen visuellen Aufwand den Aufstieg des legendären General Li Xìn. Wie so manches frühere Werk Satos besticht »Kingdom« — Action-Remmi-Demmi auf Welt­klasseniveau hin, Farben- und Formenräusche her — vor allem durch seine stillen, grüblerischen Momente. Eine Feinsinnig- und Feinfühligkeit, auf die man bei einem Comicbestseller-Spektakel dieser Art so nicht mehr zu hoffen wagt. Sie erinnert daran, dass Sato zuerst als Drehbuchautor zarter Alltagsdramen von sich reden machte.


3. »Rabid«

(CDN 2019; Jen & Sylvia Soska)

Die Soska-Schwestern werden wohl in diesem Leben nichts schaffen, was man auf einem gut erzogenen Festival den Vorkostern vom Feuilleton auftischen kann. Und das ist gut für das innere Gleichgewicht des Kinos. Aber wer weiß: Als David Cronenberg 1977 »Rabid« machte, den die Soskas hier nun variieren, hätte auch niemand geglaubt, dass dieser Mann einmal zum Auteur-Superstar und Cannes-Dauergast würde. Cronenbergs Besetzung der Hauptrolle seines Rabid mit Marilyn Chambers versuchten die Soskas nicht mit einer XXX-Diva unserer Tage zu replizieren — vernünftigerweise. Denn Chambers funktionierte nur in einer Welt, wo Werbung und Pornographie noch einen gewissen Glamour hatten und nicht Alltag waren. Stattdessen holten sich die Soskas Laura Vandervoort, die ob ihrer Fernsehgeschichte schon eine gewisse Horror- und Science-Fiction-Aura in ihre Rolle einbringt. So führen die Soskas Cronenbergs metatext-wildes Original wieder dahin, wo es herkommt: ins Genre. Frontal, unsentimental und manchmal fies wie Sau.


4. »Dachra«

(TUN 2018; Abdelhamid Bouchnak)

Abdelhamid Bouchnaks Spielfilmdebüt gehört zu den kleinen Offenbarungen. Und sei’s nur, weil er sich so angenehm genrehaft verhält: Ja, hier machen die Hauptfiguren genau jene Art von Fehlern, bei denen man sich immer die Haare rauft. Sie vertrauen den Falschen, bleiben, wenn sie gehen sollten, und so weiter. Aber braucht’s das nicht, damit ein gewisses Dräuen einen durchsuppen kann? Genre ist ja kein Blick aus dem Fenster. »Dachra« besticht denn auch nicht durch seine Geschichte, sondern die Atmosphäre. Und da darf man sagen: Diese Bilder hat man so noch nicht gesehen. Bouchnak geht voll in der Lokalfolklore auf, und ob die nun echt ist oder orientalistelndes Teufelswerk — wer weiss das schon? Sicher ist: Wirken tun sie, diese merkwürdig krächzenden verschleierten Vetteln...


5. »Shadow«

(CHI 2018; Zhang Yimou)

Zhang Yimous visuell barock-experimentelles Schwertkampfspektakel »Shadow« (2018) sorgt für allseitig betörte Seufzer. Gleich »Dachra« ist »Shadow« nichts für die Freunde des psychologisch wohlfeil Motivierten. Obwohl Zhangs Intrigenlabyrinth auf der Drehbuchebene ungleich komplexer aufgestellt und filigraner ausgearbeitet ist — wenn’s auch am Ende über das Genreübliche und -konforme nicht hinausgeht: Macht ist trügerisch und macht aus Menschen Betrüger. Aber Staunen auf allerhöchstem Niveau darf man, ist der Film doch eine einzige Etüde in Grau und Schwarz. Alles ist dunkel in dunkler, bis auf das Blut, dessen Rot selten perverser schimmerte. Der Vergleich mit Zhangs farblich komplett durchkodierten »Hero« (2002) liegt auf der Hand. Welcher einem nun mehr liegt, hängt letztlich davon ab, ob’s lieber kräftig bunt oder nuancenreich monochrom sein soll. Und wie sinister man seinen Genre-Existentialismus braucht. »Shadow« ist nicht nur im Bild düsterer.

Do 12.–So 22.9, Residenz
Vorverkauf ab Mo 2.9., fantasyfilmfest.com