Aufwändig restauriert, flankiert von Essays und jetzt kostenlos auf »byNWR« zu sehen: »Olga’s House of Shame«

Exploitation aus Profihand

Auf der kostenlosen Plattform »byNWR« zeigt Nicolas Winding Refn restaurierte B-Film-Perlen

Bologna, Juni 2019: Nicolas Winding Refn erzählt von einer dieser langweiligen Klick-Nächte im Netz — bis per E-Mail ein verlockendes Angebot eintrudelt: Eine Firma in Seattle will eine Filmsammlung abstoßen, hauptsächlich Negative von in Vergessenheit geratenen Filmen, die in den 60er und 70er Jahren in den schmierigen Kinos rund um den Times Square liefen. Zelluloid für Cine-Snobs, eine Goldgrube für Para-Cinephile, zu denen auch Refn zählt.

Kurzerhand wechselten 200 Kopien den Besitzer, etliche weitere kamen hinzu. Doch was tun mit einer Filmsammlung in den USA, während man selbst in Kopenhagen lebt? Eine Idee reifte in dem Regisseur, der einst als dänischer Tarantino mit Videotheken-Thrillern begann, seit »Drive« aber auf internationalen Festivals als kühler Style-Auteur reüssiert und auf dem Film Festival Cologne den Filmpreis Köln verliehen bekommt: Warum den Stapel nicht einfach restaurieren, aufbereiten und der Weltöffentlichkeit via Streaming zugänglich machen — gratis. »Because free is the ultimate punk rock attitude«, sagt Refn. Applaus in Bologna.

So entstand »byNWR«, ein Streamingdienst wie kein zweiter. Er funktioniert nicht wie andere nach dem Prinzip Müllhalde: auskippen, was die Lizenzen hergeben, die Algorithmen werden‘s schon richten. ByNWR ist vielmehr streng kuratiert — quartalsweise nach thematisch übergeordneten Dossiers (»Volumes«), die in einzelne »Kapitel«, die jeweiligen Filme, unterteilt sind. Das macht das Angebot ­schmal und konzentriert: Der Film wird wieder zum Ereignis. Dossiers wie »Hillbillies, Hustlers and Fallen Idols« oder »Monstrous Extravagances« verführen spontan dazu, in den Schattenwelten verloschener Filmgeschichte zu stöbern.

Zudem unterscheidet sich byNWR in der Anmutung: Wird das Stöbern bei Netflix oft zur abendfüllenden Qual, ist hier die komplexe Seitenarchitektur ein Spaß für sich. Neben den Filmen selbst schlummern hier zahlreiche Hintergrundartikel, flankierende Materialien oder popkulturelle Essays, die die Filme in größere Zusammenhänge rücken. Gerade noch interessierte man sich für »Olga’s House of Shame«, ein mit harten SM-Szenen durchsetzter, kurioserweise von einem edlen Orchester-Score unterlegter Prostituierten- und Bordell-70-Minüter aus den 60er Jahrenn, schon findet man sich in einem langen Lesestück über die Geschichte der hohen Kunst des Peitschenschlags wieder, dessen Lektüre nur unwesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt als der Film.

Oder aber man stößt auf ein von Russ-Meyer-Biograf Jimmy McDonough verfasstes Epos über den weißen Soulsänger Wayne Cochran — als Supplement zum Exploitation-Roughie »Shanty Tramp«, der den hitzigen Nächten Floridas ein Denkmal in wunderbar flirrendem Schwarzweiß setzt —, erkundet Floridas schmieriges Studio auf einer beigefügten Comic-Karte oder sieht kundige Annotationen zur Restaurierung durch. Das alles ist visuell exquisit aufbereitet.

Refns byNWR rettet nicht bloß Sumpfblüten der Grindhouse-Poesie ins Digitale. Ziel ist es, die Möglichkeiten digitalen Publizierens auszuschöpfen und Streaming mit Magazin- und Coffeetablebook-Kultur zu verbinden. Einen »cultural hub« nennt Refn sein Angebot: unweigerlich hat man beim Blättern den Eindruck, eigentlich einen opulenten Bildband zu einem obskuren Popkultur-Thema vor sich zu haben oder ein Special-Interest-Filmmagazin, in dem keine Zeichenbegrenzung das Expertentum in Schranken verweist. Wie sich das finanziell rechnen soll, steht in den Sternen. Derzeit schmeißt Refn die Party noch auf eigene Kosten.

Dass die Zukunft Richtung Kuration aus Profihand weist, zeigt indessen nicht nur byNWR: Mit dem New Beverly leistet sich etwa Quentin Tarantino ein eigenes Kino in Los Angeles, für dessen Website er schwärmerische Programmtexte verfasst. Unlängst lancierte auch der französische, auf Autorenkino spezialisierte Streamer LaCinetek einen deutschen Ableger, dessen Kernstück Lieblingsfilm-Listen namhafter Filmemacher darstellen — wobei das Angebot aber daran krankt, dass Filmkünstler bei der Zusammenstellung ihrer Vorlieben in der Regel keine Rücksicht auf das Lizenzportfolio nehmen.

Auf byNWR führt dagegen jeder Klick zum unverhofften Glück. Wer je grelle Film-Fanzines sammelte, den Kino-Underground liebte und an bizarren Schäbigkeiten Freude hatte, stößt hier auf den Goldtopf am Ende eines in allen Farben verblassten Eastman-Materials schillernden Regenbogens. »You Ain’t No Punk, You Punk”, begrüßt einen die Seite in großen Lettern mit dem Titel des aktuellen Dossiers — und macht im Begleitmaterial noch mal fest, dass Punk keine Sache von drei Akkorden, sondern allein der Haltung ist. In dieser Hinsicht ist Refn selbst noch immer der ultimative Punk.

Info: bynwr.com

Einige der auf byNWR gezeigten Filme laufen vom 11. bis 16.10. auf dem Film Festival Cologne. Info: filmfestival.cologne