»Die Lage hat sich katastrophal verschärft«: Kapitänin Pia Klemp

»Uns drohen zwanzig Jahre Haft«

Kapitänin Pia Klemp über ihre Rettungseinsätze im Mittelmeer und das Solidaritätskonzert »Save our Souls« in der Philharmonie

Frau Klemp, Sie haben rund 5.000 Menschen an Bord Ihrer Rettungsschiffe geholt und damit vor dem Tod bewahrt. Jetzt droht Ihnen in Italien die Anklage wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Was war Ihre erste Reaktion?

Als erstes musste ich lachen, weil es so absurd ist, dann kam die Bitterkeit. Wir haben alles richtig gemacht! Wir haben uns an geltendes internationales Seerecht gehalten! Vor drei Jahren wurde noch das Engagement der zivilen Seenotrettung hoch gelobt, mittlerweile werden wir zunehmend kriminalisiert.

Sämtliche Schiffe im Rahmen der Frontex-Operation Sofia haben ihre Einsätze schon lange eingestellt oder in den Norden des Mittelmeers verlegt, damit ihnen ja kein Flüchtlingsboot unter den Radar kommt

Wie viele Rettungsschiffe sind derzeit noch unterwegs?

Leider nur noch wenige, zwischendurch gar keine. Sämtliche staatlichen Schiffe, die im Rahmen der europäischen Frontex-Operation Sofia unterwegs waren, oder auch Küstenwachen, haben ihre Einsätze schon lange eingestellt oder weiter in den Norden des Mittelmeerraums verlegt, damit ihnen ja kein Flüchtlingsboot unter den Radar kommt. Ein weiteres Problem ist, dass die italienischen Behörden nach jeder Rettung die Schiffe beschlagnahmen oder willkürlich über Monate bis Jahre in den Häfen festhalten. Unsere Arbeit ist also völlig blockiert. Dann haben sich noch einige Organisationen zurückgezogen, weil ihnen der politische Druck, aber auch die Gefahr durch die ermächtigten libyschen Milizen zu groß geworden ist.

Wie ist der aktuelle Stand der Ermittlungen gegen Sie?

 Seit Juni 2018 wird mit unglaublichem Aufwand gegen mich und neun weitere Crew-Mitglieder der Iuventa ermittelt: Mindestens vier verschiedene italienische Behörden inklusive Geheimdienst sind beteiligt. Unser Schiff wurde verwanzt und monatelang abgehört. Ein verdeckter Ermittler mit Verbindungen zu den rechtsextremen Identitären bei der Lega Nord hatte die Aktion mit falschen Anschuldigungen ins Rollen gebracht. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr erfahren, ob Anklage erhoben wird. Solange das Ermittlungsverfahren im Raum schwebt, rückt das die lebensrettende Arbeit der zivilen Seenotrettung in ein schlechtes Licht.

Diskreditierung ist eine Sache. Im schlimmsten Fall droht Ihnen aber eine Haftstrafe. Haben Sie Angst?

Uns drohen bis zu 20 Jahre Haft in Italien. Wenn ich am Ende ins Gefängnis geschickt werden sollte, weil ich Leben gerettet habe, dann habe ich vor allem Angst vor diesem Europa. Unser Anwalt hat uns empfohlen, nicht auf See zu fahren, sonst kann uns U-Haft in Italien drohen. Wenn jedoch ein Einsatz an einem fehlenden Kapitän scheitern sollte, würde ich nicht zögern.

Welche Unterstützung erhalten Sie von Politik und Zivilbevölkerung?

Die Vertreter der Bundesregierung halten sich sehr bedeckt. Da werden Lippenbekenntnisse erbracht, aber wenn es darum geht, wirklich zu handeln und bei der italienischen Regierung Beschwerde einzulegen, passiert nichts. Von der Zivilbevölkerung erfahren wir tollen Support, wie das Solidaritätskonzert am 3. Oktober in der Kölner Philharmonie, das Pfarrer Hans Mörtter organisiert.

Hochrangige deutsche Politiker haben verkündet, dass sie wieder ein europäisches Rettungssystem installieren möchten. Gibt das Hoffnung?

Leider finde ich das wenig glaubhaft. Vor wenigen Monaten wurde die europäische Frontex-Operation Sophia eingestampft. Noch vor dem offiziellen Ende ist die deutsche Marine aus dem Programm ausgetreten. Als sie direkt angesprochen worden ist, ob sie nicht stattdessen staatliche Seenotrettung betreiben wolle, wurde das deutlich verneint. Für mich sind das Worthülsen.

Welchen Rahmen müsste die Politik schaffen, um das Sterben auf dem Meer zu verhindern? Gibt es überhaupt eine realistische Lösung?

Natürlich gibt es einen Ausweg! Das ist ja keine Naturkatastrophe, die sich dort abspielt, sondern von Menschen gemacht. Es muss auf verschiedenen Ebenen angegangen werden: Die Kriminalisierung und Blockade der zivilen Rettungsschiffe muss sofort aufhören. Dann braucht es ein staatliches Programm, das aufpasst, dass nicht vor den Toren Europas die Menschen zu Tausenden ertrinken. Und legale Einreisewege, damit die Menschen sich erst gar nicht in die Hände von Schleppern begeben müssen.

Die Seenotretter sind die Antwort auf das Sterben im Mittelmeer — und nicht umgekehrt!

Den Hilfsorganisationen wird häufig vorgeworfen, dass sie durch ihre Rettungsmissionen noch mehr Flüchtlinge aufs Meer locken.

Der so genannte Pull-Faktor ist ganz klar ein Vorwurf von rechter Seite, der durch viel beachtete Studien etwa von der Oxford University widerlegt worden ist. Die Seenotretter sind die Antwort auf das Sterben im Mittelmeer und die Menschen dort und nicht umgekehrt. Das lenkt den Fokus weg von den eigentlichen Diskursen: Wie kann es sein, dass die EU libysche Milizen finanziert? Seitdem gehen die Todesraten enorm in die Höhe.

Haben Sie selbst schon Übergriffe von libyschen Milizen erlebt?

Die Lage hat sich durch die Milizen katastrophal verschärft. Während unseres Einsatzes im November 2017 haben die Milizen enge Kreise um unser Schiff gezogen und mit Maschinengewehren in die Luft geschossen. Die Stimmung war extrem gewaltbereit, sie haben uns mit Entführung gedroht. Vor unseren Augen sind sehr viele Menschen ertrunken, weil die Milizen ihre Schlauchboote kaputt gemacht haben. Viele Flüchtende sind nach Libyen verschleppt worden, wo sie in Internierungslagern ausharren müssen, in denen sie gequält, gefoltert, vergewaltigt oder auch willkürlich hingerichtet werden. Etwa 60 Menschen konnten wir retten, sie waren völlig traumatisiert. Und dann haben uns die europäischen Regierungen erst einmal die Einfahrt in die Häfen verwehrt. Wenn es darum geht, den Tod von Tausenden Geflüchteten zu verhindern, funktionieren scheinbar keine Telefone oder E-Mail-Verteiler mehr.

Pia Klemp hat Biologie studiert und steuerte seit 2015 als Kapitänin die beiden zivilen Rettungsschiffe Iuventa und Sea-Watch 3. Wegen laufender Ermittlungen in Italien fährt sie derzeit keine Einsätze. Soeben erschien ihr Roman »Lass uns mit den Toten tanzen«. Am 3. Oktober organisiert ein Team um Südstadtpfarrer Hans Mörtter das Solidaritätskonzert »Save our Souls« in der Philharmonie. Die Einnahmen gehen an die zivile Seenotrettung. Pia Klemp wird ihr Buch vorstellen.

»Save our Souls«, Do 3.10., 20 Uhr, Philharmonie