Colson Whitehead hat ein seltenes Talent. Seine Romane sind Gegenwartsliteratur im besten Sinne: Sie stellen Fragen über unsere Gesellschaft, deren Beantwortung ein ganzes Buch benötigt. Gleichzeitig sind sie Romane als Kunstwerke: Sie spielen mit literarischen Konventionen in allen Genres. Whiteheads Debüt »Die Fahrstuhlinspektorin« (2001) ist eine Allegorie auf Rassismus im Stil eines Noir-Krimis. »Zone One« (2011) ist ein misanthroper Zombie-Roman, der den postapokalyptischen Überlebenskampf gegen den Alltagshorror im Wiederaufbau der Zivilisation eintauscht. In der Alternativweltgeschichte »Underground Railroad« (2016) wird das gleichnamige historische Netzwerk zur Sklavenbefreiung zu einem real existierenden Tunnelsystem mit Unterwelt-Charakteren, was ihm nicht nur den Pulitzer-Preis, sondern auch eine Leseempfehlung von Barack Obama einbrachte.

Whiteheads aktueller Roman »The Nickel Boys« behandelt ebenfalls ein historisches Sujet. Es geht um die »Dozier School for Boys«, eine »Besserungsanstalt« für verwaiste und deliquente Jugendliche in Florida, die wegen Übergriffen auf die Schüler berüchtigt war. Nach ihrer Schließung 2011 kam heraus, dass dort mehr als 100 Schüler anonym und ohne Nennung der Todesursache bestattet wurden: Der Verdacht auf Totschlag liegt nahe. In Whiteheads Roman wird sie zur »Nickel School«, dem Schauplatz der Coming-of-Age-Geschichte zweier afro-amerikanischer Teenager in den 60er Jahren. Elwood ist fleißig und hat ein Faible für Enzyklopädien. Seine Lebensphilosophie bezieht er von einer Schallplatte mit den Reden Martin Luther Kings. Durch eine zufällige Polizeikontrolle landet er auf der Nickel, wo der straßenschlaue Turner, für den Betrug und Diebstahl zum Alltag gehören, sein bester Freund wird. Whitehead hat »Die Nickel Boys« in Folge der Proteste gegen Polizeigewalt in Ferguson geschrieben, was den Roman prägt. Sowohl Elwood als auch Turner zerbrechen am System der Nickel School. Gegen Rassismus kann sich der Einzelne nicht wehren.