»Hallo Nachbar! Wie geht’s, wie steht’s?«

Die Physikersiedlung in Porz, errichtet nach dem Krieg, wurde vollständig abgerissen und neu aufgebaut, um möglichst vielen Menschen günstige und moderne Wohnungen zu bieten. Nur die Straßennamen sind geblieben und ein paar verblassende Erinnerungen

Den Engländer gibt’s nicht mehr. Jeder kannte ihn, aber niemand wusste, warum er so genannt wurde, nicht mal er selbst. Der Engländer, das war der Kiosk in der alten Physikersiedlung in Porz, deren Straßen nach Planck, Watt, Hertz oder Siemens benannt sind. Beim Engländer am zentralen Platz der Genossenschaftssiedlung gab es Süßigkeiten, Zeitschriften, Konserven und Bier. Bier ging am besten. Beim Engländer liefen sich alle Bewohner über den Weg: junge Studenten, alleinstehende Alte und jene, die oft ­Probleme hatten, mit Behörden, mit Bier oder einfach, weil ihr Leben nicht glücken wollte.

Die Wohnungen waren sehr günstig. Sie waren nach dem Krieg als »Kasernenausweichwohnungen« errichtet worden: mit Kohleofen, ohne Komfort, aber günstig. 2007 begann die Wohnungsbaugenossenschaft Gewog, die Mehrfamilienhäuser mit den 180 Wohnungen abzureißen. Heute ist die Physikersiedlung nicht mehr wiederzuerkennen, nur die Straßennamen blieben. Die Hertzstraße ist nun eine Spielstraße, die das Karree durchzieht. In Planck­straße, Ohmstraße, Wattstraße sind schon neue Wohnungen bezogen worden, entlang der Siemensstraße werden sie gerade hochgezogen. Seit 2014 errichtet die Gewog rund 270 freifinanzierte Wohnungen in 17 neuen, modernen Häusern. Hier brennen keine Müllcontainer mehr, weil niemand mehr heiße Aschenglut in den Abfall gibt. Heute kommt regenerative Energie zum Einsatz, Geothermie.

Mit den Häusern ist nicht nur der Engländer verschwunden, sondern auch die Wiesen mit den alten Bäumen, wo man beisammen saß. »Einen Tod muss man immer sterben«, sagt Frank Fieberg beim Rundgang. Der Architekt ist Technik-Abteilungsleiter der Gewog. Es sei nicht möglich, vielen Menschen günstigen Wohnraum anzubieten und gleichzeitig noch große Wiesen zwischen den Häusern. »Natur gibt es in Porz außerdem vergleichsweise viel. Man ist schnell am Rhein, und zur Wahner Heide oder an die Groov braucht man nicht lange.«

Die Wohnungen seien schon ein halbes Jahr vor Fertigstellung vergeben, so groß sei das Interesse, sagt Regina Bremer, die Vorstandsassistentin der Gewog. Sie deutet auf das Baufeld an der Siemensstraße, wo reger Betrieb herrscht. Genossenschaften ständen wieder hoch im Kurs, sagt Bremer. Gewog-Mieter kaufen zwei Genossenschaftsanteile zu je 1000 Euro und damit die Sicherheit, hier wohnen bleiben zu können, zurzeit für 8,20 bis 10,20 Euro pro Quadratmeter. Beim Rundgang mit der kleinen Gewog-Entourage taucht an der Hertzstraße Marc Stevens auf, ein drahtiger Mann mittleren Alters im T-Shirt. Stevens ist der Gewog-Hauswart der Siedlungen. Der heiße Sommer sei problematisch gewesen, sagt er. Einige Sträucher wurden in Mitleidenschaft gezogen. Gegen die Hitzewelle ist er machtlos, alles andere regelt er. Ja, sagt er, es gebe immer mal was zu tun, aber das sei meist schnell erledigt. Er ist bekannt in der Siedlung. Ja, es gebe auch viele hier, die ihn noch auf einen Kaffee einladen wollten, sagt Stevens.

Ein Bewohner im Rentenalter steht an der Haustür. Er hält einen kurzen Plausch mit einer Nachbarin und deren Sohn, der mit einem Spielzeugschwert herumalbert. Auch mit dem Vater, der gerade von der Arbeit kommt, wechselt er ein paar freundliche Worte. Ja, die Atmosphäre im Haus sei gut, sagt er später. Zu Ostern oder zu Weihnachten bekommen die beiden Jungs von ihm und seiner Frau sogar was geschenkt. »Ist doch klar«, sagt er. Neulich hat der jüngere ein Einschulungsgeschenk bekommen. »Aber da musste der ältere natürlich auch was bekommen, ein Buch über Vulkane und Ägypten.« Da habe er mit seiner Frau mal Urlaub gemacht und sei beeindruckt gewesen. Er ist überhaupt viel herumgekommen und gereist. Früher hat er am Flughafen in Porz für eine Fluggesellschaft gearbeitet. Daher war es auch praktisch, dass die alte Wohnung in einer Hochhaussiedlung in der Nähe lag. »Da bin ich mit dem Rad zur Arbeit rübergefahren«, erzählt er. »Aber jetzt wollten wir eine Wohnung im Erdgeschoss, barrierefrei.« Seit mehr als drei Jahren wohnen seine Frau und er nun schon in der neuen Physikersiedlung. Früher hatte das Ehepaar achtzig Quadratmeter Wohnfläche, jetzt reichen ihnen die gut sechzig, mit Fußbodenheizung, offener Küche und nicht zuletzt der Tiefgarage. Im Hochhaus gab es fünf Mietparteien auf jeder Etage. Da sei es schon mal lauter gewesen. In der Physikersiedlung ist es ruhig, das Verhältnis zu anderen Nachbarn gut. Wäre da nicht nebenan der Baulärm an der Siemensstraße. »Aber das war uns ja bekannt, und irgendwann sind die da ja auch mal fertig.« sagt er. »Außerdem haben wir doppeltverglaste Fenster, ganz modern, da hört man nichts, die sind dicht.«

Dicht ist aber auch die Bebauung. Die schmalen Terrassen im Parterre sind mit Hecken geschützt, zwischen den Häuserblocks kleine Kinderspielplätze angelegt. Der Kinderlärm stört ihn nicht. »Klar, da spielen sie, und man trifft auch hier die Nachbarn. Da sagt man dann, wie geht’s, wie steht’s, und tauscht wichtige Neuigkeiten aus.« Ihn stört etwas anderes. »Das sind die Helikopter-Eltern der Realschüler, die hier mit ihren Autos die Straße blockieren.« Außer der Realschule gibt es eine Grundschule und einen Kindergarten nebenan, außerdem eine Hauptschule und fußläufig das Gymnasium.

Für die Kinder der Siedlung hat die Gewog einen großen Spielplatz in einem Baufeld auf der anderen Seite der Planckstraße angelegt. »Wenn wir uns selbst darum kümmern, wissen wir auch, dass er gepflegt ist«, sagt Regina Bremer von der Gewog. »Das wertet die Nachbarschaft enorm auf.« Zwei Mütter mit Kindern in Buggys sind auf dem Weg dorthin. »Ich wohne gar nicht hier, sondern ein paar Straßen weiter«, sagt die eine. »Aber der Spielplatz ist viel gepflegter als die anderen in der Nähe.« Wohnen wollte sie aber nicht hier. »Das sind zwar gute Wohnungen, viel schicker und moderner als das, was früher hier stand. Aber uns war die Küche zu klein. Außerdem ist das eng gebaut, finde ich. Da guckt man sich ja immer in die Fenster rein.« Ganz so ist es aber nicht. Dieter Jordan führt durch die Wohnung, die er mit seiner Partnerin vergangenen April bezogen hat. »Gute Ausstattung«, sagt er. »Und zwei Bäder haben wir hier, alles barrierefrei.« Mit einem Freund, der auch hier wohnt, hat Jordan schon mehrere Feste in der Siedlung organisiert, vor ein paar Wochen kamen 30 Bewohner, Jordan hatte einen Elektrogrill, zwei Pavillons und Biergarnituren organisiert. Er zeigt Fotos auf seinem Handy. »Die Gewog hat spontan hundert Euro dazugegeben«, sagt Jordan. Auch mit Porz ist Jordan zufrieden, viel Natur, Einkaufsmöglichkeiten, Verkehrsanbindung, sagt er. »Bloß kulturell ist hier nicht viel los, das muss man so sagen.« Der Rentner stammt eigentlich aus der Südstadt. »Aber wir sind in den 60er Jahren schon oft nach Porz gefahren. Da gab’s diese Disco, Poster hieß die, die war gut. Die Bläck Fööss hingen da auch rum.« In den 80er Jahren zog Jordan dann sogar nach Porz. Zwar nicht in die Physikersiedlung, aber seinen beiden Töchtern besorgte er dort ihre erste eigene Wohnung. »Keine tollen Wohnungen, aber günstig«, sagt er. Er erinnert sich auch an die Zeit, als es hier nicht bloß den Kiosk, sondern auch Bäcker und eine Metzgerei gab. Warum der Kiosk »Engländer« genannt wurde, weiß auch Jordan nicht. Die Antwort darauf, so scheint es, ist mit der alten Physikersiedlung verschwunden.