Ruth Spätling, Drei Lessi Drei

Streit, Affären, Biokiste - Neue Wohnformen in Köln

Immer mehr Menschen sehnen sich nach Nachbarschaft und Gemeinschaft. Man baut oder mietet gemeinsam und hat hohe Erwartungen. Doch wie viel Gemeinschaft verträgt unser individueller Lebensstil? Und wer bekommt die Wohnung mit Dachterrasse?

Plötzlich ist ein mächtiges Dröhnen zu hören. »Oh! Mo­ment mal, bitte! Ich muss ein Foto machen!« Matthias Knopp zückt sein Smartphone und hält es auf das Grundstück hinter dem Bauzaun. Arbeiter rammen dort mit schweren Baufahrzeugen Bohrer in den Boden. Ab und an folgt darauf ein lautes Piepsen. »Ich hoffe, das ist jetzt kein schlechtes Zeichen«, sagt Knopp. Die Baufahrzeuge sind da, um Knopps Traum zu verwirklichen. Das Grundstück an der Christianstraße gehört einer Baugruppe, deren Teil er ist. Insgesamt sind sie 18 Erwachsene und neun Kinder. Sie haben sich Mitte 2017 unter dem Namen »Minge Onkel« zusammengeschlos­sen und wollen hier, wo es gerade dröhnt und piepst, gemeinschaftlich zusammen­leben. Der Name der Gruppe nimmt ironisch Bezug auf Jacques Tatis »Mon Oncle«, ein Film, der in einer modernistisch sterilen Siedlung spielt. In Ehrenfeld stehen 900 Quadratmeter samt Altbau für zehn Parteien bereit, für das erste Obergeschoss im Altbau sucht man noch Interessenten. Gleich nebenan wird außerdem eine Kita errichtet.

Anfang des vergangenen Jahres haben »Minge Onkel« sich mit ihren Plänen bei einer Jury gegen ein halbes Dutzend anderer Baugruppen durchgesetzt. Ausschlaggebend war auch, dass die Gruppe nachweisen konnte, wie sie sich bereits für das Veedel engagiert, etwa bei der Radkomm, mit dem Magazin Ehrenfelder oder kulturellen Veranstaltungen. Im Gebäude soll unter anderem noch ein »Stadt­salon« mit gut 70 Quadratmetern als Treffpunkt sowie eine Offene Fahrradwerkstatt entstehen. »Dass wir damit hier auch gentrifizieren, ist uns klar. Da kann man ja nicht drum herumreden«, sagt Knopp. »Ich bin 43 und Akademiker, aber ich kann mir ja nicht die ganze Zeit die Peitsche auf den Rücken hauen und nach Meinerzhagen ziehen.«

Man habe es zwar gar nicht auf ein Höchstmaß an Diversität und Heterogenität angelegt, sagt Knopp, aber sie seien doch vorhanden, allein die Altersspanne reicht von zweieinhalb bis 64 Jahre.

Der Familienblase entkommen

Wie plant man so ein Projekt überhaupt? Wie passen all die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Mitglieder mit dem Wunsch nach gemeinsamem Wohnen zusammen? Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner? Knopp sagt, es sei ein langer Prozess gewesen. Ein Vorteil sei gewesen, dass sich einige in der Gruppe schon kannten, befreundet waren. Andere seien hinzugekommen. »Die Architektur legt Gemeinschaft nahe«, sagt Knopp. »Aber die ist fakultativ, man muss sich auch zurückziehen und sich aus dem Weg gehen können.« Der Neubau werde von einer »Aorta« durchzogen, einem Gang, von dem die einzelnen Wohnungen abgehen. Der Altbau ist über eine Brücke mit dem Neu­bau verbunden. Alle zahlen den gleichen Quadratmeterpreis, und damit das nicht ungerecht ist, hat man sich über die jeweiligen Qualitäten der Wohnungen verständigt und Nachteile baulich ausgeglichen, etwa mittels kleiner Privat­terrassen: Für wen ist etwa viel Licht, Barrierefreiheit oder die Nähe zu Gemeinschaftsräumen am wichtigsten? »Das ging überraschend schnell, sich einig zu werden.« Anderes sei in den vergangenen gut zwei Jahren mühevoller gewesen, sagt Knopp. »Aber von uns sind bis jetzt fast alle dabeigeblieben. Wenn man es bis hierhin geschafft hat, dann ist das ein super Fundament, so etwas schweißt zusammen.«

Allerdings habe man erst lernen müssen, was es heißt, als Baugruppe so ein Projekt zu stemmen, sagt Knopp. Derzeit hat er oft drei Abendtermine in der Woche, um das Projekt mit den anderen voranzutreiben. Die Motivation sei für ihn und seine Frau auch gewesen, hier zusammen alt zu werden und dass ihr Kind in einer angenehmen, gemeinschaftlichen Atmosphäre aufwachse. Freundschaft sei ein großer Wert, man wolle wie in einer großen Familie leben. Aber er sei nicht naiv, er wisse, dass auch Konflikte auftauchen werden, so Knopp. »Die Baugruppe kann sich immer verändern, Kinder werden geboren, es kann Trennungen, Jobwechsel, Affären und Schicksalsschläge geben. All das kann man nie ausschließen, in keiner Gemeinschaft.«

Immer mehr Menschen teilen heute Knopps Sehnsucht nach Wohnen in der Gemeinschaft. Sie suchen Nachbarschaft und möchten nicht nur banale Dinge wie ein Waffeleisen mit anderen teilen. Mehr als tausend Besucher haben sich im März dieses Jahres beim Kölner Wohnprojektetag über Baugruppen, Mehrgenerationenhäuser, Genossenschaften oder andere Modelle informiert. Wie lässt sich dieser Trend erklären?

»Die Motive der Menschen unterscheiden sich stark«, sagt Birgit Pohlmann. Die Architektin und Raumplanerin moderiert und entwickelt seit 22 Jahren gemeinschaftliche Wohnprojekte, zudem lebt sie schon seit 1985 selbst in einem. Familien, sagt Pohlmann, wünschten sich stets ein kindgerechtes Umfeld und mehr Spielkameraden für ihre Kinder. »Gleichzeitig stellen sie sich vor, der Familienblase in einer größeren Gemeinschaft schneller mal entkommen zu können: Weil dann auch Leute im Haus sind, die nicht immer nur über Kinder reden, und weil sie ins Kino gehen können, ohne Tage vorher den Babysitter zu bestellen.« Paare oder Einzelpersonen, deren Kinder aus dem Haus sind, wollten häufig gern etwas Neues probieren, so Pohlmann. »Sie möchten ihre Ideen verfolgen, etwa was Baustoffe, Energie, Car- oder Food-Sharing angeht.« Ältere möchten dem Alleinsein vorbeugen und die Chance auf eine barrierefreie Wohnung ergreifen, die es in den neu gebauten Häusern häufiger als anderswo gibt. Wenn Eigentum gebildet werde, sagt Pohlmann, dann spiele neben dem Nachbarschaftsgedanken natürlich auch die Alterssicherung eine Rolle. Kommen denn die Menschen, die sich für gemeinschaftliches Wohnen interessieren, alle aus einem ähnlichen, womöglich akademischen Milieu? Nein, sagt Birgit Pohlmann. »Es sind auch beileibe nicht nur Gutverdiener darunter.« In vielen Projekten gebe es geförderte Wohnungen. »Gemeinschaftlich wohnen ist eher eine Frage der Weltanschauung, der Neugier und Offenheit.«

Köln zählt zwar nicht zu den Vorreitern, doch viele alternative Wohnformen gibt es inzwischen auch hier. Sie unterscheiden sich zum Teil stark voneinander — sowohl in ihrer Rechtsform als auch in der Zusammen­setzung ihrer Bewohner. Bei Mehrgenerationenhäusern ist häufig eine Genossenschaft beteiligt: 1993 baute die städtische Wohnungsgesellschaft GAG mit einem Be­wohner­verein in Bickendorf das Modellprojekt »Leben und Wohnen mit Kindern«, speziell auch für Alleinerziehende. Es folgten das inklusive »Ledo-Haus« in Niehl, die »Villa Anders« für schwul-lesbisches Wohnen in Ehrenfeld und viele andere. In Widdersdorf baute eine Gruppe von Frauen den genossenschaftlich organisierten, feministischen Beginenhof.

Baugruppen kamen in Köln erstmals 2006 auf dem Gelän­de des ehemaligen Kinderheims in Sülz zum Zuge; 2017 reservierte die Stadt dann auf dem Clouth-Gelände
in Nippes einige Grundstücke eigens für Baugruppen — in der Hoffnung, dass diese in der neuen Siedlung die Menschen vernetzen und das nachbarschaftliche Leben ankurbeln.

Inzwischen ist die Nachfrage nach gemeinschaftlichen Wohnformen so stark angestiegen, dass die Stadt Köln zurzeit eine Beratungsstelle einrichtet. Schon von 2007 bis 2010 bezuschusste die Stadt den Bau von Gemeinschaftsräumen in Mehrgenerationenhäusern, und seit 2016 gibt es die Konzeptvergabe: Beim Verkauf städtischer Grundstücken soll nicht mehr der Höchstbietende, sondern der Bieter mit dem besten sozialen, ökologischen oder baukulturellen Konzept zum Zuge kommen. Auf dem Clouth-Gelände wurde die Konzeptvergabe erstmals angewandt. »Wir fördern gemeinschaftliche Wohnformen, weil dadurch ein sozialer Kitt entsteht: Unterstützung im Alltag, soziale Kontakte«, sagt Brigitte Scholz, Leiterin des Amts für Stadtentwicklung. Sie lebt selbst in einer Baugruppe auf dem Clouth-Gelände. »Diesen Kitt brauchen wir, weil die traditionelle Form der Familie seltener wird.«

Baugruppen lösen nicht die Wohnungsnot

Die Bevölkerungsprognose für Köln sagt voraus, dass in Zukunft vor allem Wohnraum für Ein- und Zweipersonen­haushalte fehlen wird, und dass Familien aus der Stadt abwandern. »Was wir benötigen, ist also eine gesunde Mischung von Wohnformen«, so Amtsleiterin Scholz. ­Deshalb sei der Stadt daran gelegen, dass in Baugruppen und Mehrgenerationenhäusern auch immer genügend kleine Wohnungen zu finden sind. Noch läuft die Konzeptvergabe in Köln nicht rund; für die städtischen Flächen auf dem Sürther Feld etwa fand sich bislang kein Käufer. »Wir müssen noch lernen und nachjustieren«, sagt Scholz. Kommunen wie Hamburg, wo es eine fest etablierte Beratungsstelle für gemeinschaftliche Wohnformen gibt, oder Berlin mit seiner »großen Szene für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen« seien da einen Schritt weiter. Bei allen großen Kölner Stadtentwicklungsprojekten wie der Parkstadt Süd, dem Deutzer Hafen oder dem geplanten Stadtteil Kreuzfeld im Norden werde die Frage nach gemeinschaftlichen Wohnformen jedenfalls »noch sehr interessant werden«.

Auch Burkard Dewey ist fasziniert vom gemeinschaftlichen Wohnen. Der Architekt und Stadtplaner vom Büro Dewey Muller sagt, er habe selbst immer wieder überlegt, ob das auch für ihn persönlich interessant sein könnte.
Als Planer hatte er bislang dreimal mit Baugruppen zu tun, zuerst in Esch-sur-Alzette in Luxemburg, dann beim Kinderheimgelände in Sülz und zuletzt auf dem Clouth-Gelände, wo 2017 die Gruppe »HerzClouth« einziehen konnte: eine Baugruppe mit Einpersonenhaushalten, Seniorenpaaren sowie sechs Familien mit ein bis drei ­Kindern. »Da hat man gemerkt, dass schon in der Planung jeder seine Rolle gefunden und übernommen hat«, sagt Dewey. »Die Älteren übernehmen vielleicht die Garten­arbeit und bringen den Kindern der Familien bei, wie Gemüse gepflanzt wird, etwas, was man sonst nur von Großfamilien kennt.«

Der Architekt und Planer Dewey sagt, das Gemeinschaftliche sei zwar ein großes Thema. Doch Baugruppen seien trotz der Nachfrage nach wie vor ein »Sonderfall der Wohnungsentwicklung«, zumal sie die Wohnungsnot nicht lösen könnten. Allerdings käme Baugruppen eine gesellschaftliche Bedeutung zu, weil durch sie in neuen Quartieren Gemeinwesenorientierung und stabile Nachbarschaften gefördert würden. Häufig bestehe in diesen Gruppen auch ein stärkeres Bewusstsein und ein höherer Anspruch in puncto Klimaschutz oder Energieeffizienz. »Das sind Menschen aus der Mittelschicht mit einem ähn­lichen beruflichen Background, die einen innovativen und zukunftsorientierten Anspruch haben«, sagt Dewey und ergänzt: »Aber wir können Individualität nicht grenzenlos bedienen. Wir brauchen auch Struk­­tur und Typologien im Wohnungsbau, die sich be­währt haben«. Gemeinwesen ­verlange auch nach »Regeln, die sich in robusten städtebaulichen Planungen widerspiegeln«. Der Zuzug und die Nachfrage nach erschwinglichen Wohnungen müsse durch große Projekte befriedigt werden.

Damit ein Baugruppen-Projekt auch gelingt, rät Dewey aus Erfahrung, unbedingt eine Moderation zu beauftragen. »Von Beginn an, und nicht erst, wenn es kriselt. Die Moderation sollte bereits bei den ersten wichtigen Entscheidungen dabei sein, um ein Gefühl für die Gruppe und ihre Bedürfnisse zu bekommen. »Es lohnt sich nicht, da Geld zu sparen«, so Dewey.

»Es muss immer Ziel des Architekten sein, dass alle Wohnungen gleichwertig sind«, sagt die Moderatorin ­Birgit Pohlmann. Aber natürlich gelinge das nicht immer. Und dann? »Wenn 80 Prozent der Gruppe in die Dachgeschosswohnung wollen, dann ist die Regel: Sie wird teuer.« Dadurch werden die anderen Wohnungen automatisch günstiger. »Sie glauben ja gar nicht, wie schnell die anderen Wohnungen dann belegt sind.« Man müsse die Belegungsfrage nur früh genug entscheiden, und zwar, »bevor die ersten ihre Wünsche laut äußern, denn dann werden ­Entscheidungen persönlich«. Aber sind damit wirklich alle zufrieden? Pohlmann sagt: »Wenn einer in der zweiten Etage landet statt in der dritten, ist er vielleicht mal eine Woche traurig. Aber wem das Projekt und die anderen Leute wirklich wichtig sind, der kann damit letztlich
gut leben.«

Sobald die Belegung geklärt ist, stellen sich allerdings sogleich neue Fragen: nach dem passenden Energiesystem, der Gartengestaltung und der Einrichtung der Gemeinschaftsräume. Auch in diesen Fragen muss sich die Gruppe wieder einigen. »Man muss Standards festlegen«, sagt Pohlmann. »Wenn ich als Baugruppe mit einem Katalog von Sonderwünschen komme, macht mir doch kein Unternehmen mehr ein Angebot.« Aber auch hier habe jeder andere Vorstellungen: von den Fußböden über Waschtische und Türbeschläge bis hin zum Treppengeländer — »jeder hat mal irgendeine Messe besucht und eine vermeintlich tolle Idee.« Aber diese Vielzahl von Varianten macht die Angebote von Unternehmen teurer. Die Mehrkosten trägt aber nicht der Einzelne, sondern alle gemeinsam. Wer in diesen Fragen nicht kompromissbereit sei, könne vielleicht nicht bleiben, sagt Pohlmann. »Es wollen so viele Menschen gemeinschaftlich wohnen, bis jetzt ist noch jedes Projekt voll geworden.«

Wenn die Baugruppe dann endlich einzieht, ist die Arbeit von Birgit Pohlmann abgeschlossen. Doch für die Bewohner beginnt das Projekt jetzt erst richtig.

»Man braucht in jedem Fall einen langen Atem. Aber es lohnt sich«, sagt auch Peter Heinzke. Gemeinschaftliches Wohnen ist sein großes Thema. »Ich war vor vierzig Jahren schon mal im Dürener Umland mit einem Projekt zugange, aber das hat nicht geklappt«, sagt er. Doch 2017 ist er endlich ans Ziel gelangt. In seiner Baugemeinschaft »Wunschnachbarn«, einem weiteren von zehn Projekten auf dem Clouth-Gelände, ist Heinzke einer von vier älteren Menschen, die jeweils eine kleine Wohnung haben und sich eine gemeinschaftliche Küche teilen. »Ich hätte das mit anderen auch auf Mietbasis gemacht«, sagt Heinzke. »Aber so etwas findet man in Köln ja kaum.« Heinzke ist längst Experte für gemeinschaftliches Wohnen geworden. Er hat einen Überblick über viele Baugruppen in Köln. Heinzke ist Mitglied im »Netzwerk für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen« im Haus der Architektur (hdak), wo er auch zum »Wohnprojekte-Stammtisch« einlädt. Jeden ersten Donnerstag im Monat schauen Men­schen vorbeischauen, die bei einer Baugruppe mitmachen möchten oder aber für ihr Projekt noch jemanden suchen. Anfang September sitzen knapp zehn Menschen um den Tisch im hdak-Kubus vor der Zentralbibliothek. Für Heinzke, der sein schütteres Haar lang trägt und sich lässig im Designer-Stuhl fläzt, ist gemeinschaftliches Wohnen eine Herzensangelegenheit. Er hört sich mit Interesse all die Ideen und Wünsche der Gäste an und vermittelt gleich vor Ort: Die Vertreterin eines Projekts, bei dem junge und alte Menschen gemeinsam leben, sucht noch junge Interessenten. »Ja, wär das nichts für euch?«, fragt Heinzke eine junge Frau aus dem Umland, die gekommen ist, weil sie mit ihrem Freund in Köln eine Wohnung sucht. »Am besten ihr tauscht euch gleich aus«, sagt Heinzke und reicht die Broschüre der Gruppe weiter.

Heinzke selbst ist hoch zufrieden mit seiner kleinen Wohnung auf dem Clouth-Gelände. Heinzke erzählt, was die Baugruppen alles erschaffen haben und wovon auch die Nachbarschaft profitiere. Es gibt eine Offene Veedelswerkstatt, die Verkehrs-AG, eine Spielewerkstatt, Konzerte, Filme, Lesungen sowie einen Thementag zur Geschichte der ehemaligen Gummiwaren-Fabrik Clouth, der mit ehemalige Fabrikarbeiter gestaltet wurde. »Die waren sehr erfreut, das neue Leben auf dem Clouth-Gelände zu sehen und das Interesse an der Vorgeschichte hier zu spüren«, sagt Heinzke.

Doch so harmonisch geht es nicht immer zu, wenn Menschen sich zusammenfinden. Dann wird der gemeinsame Traum zum Albtraum für jeden einzelnen.

Man grüßt sich auf einmal nicht mehr

Eine sehr spezielle Wohnform findet man im Kölner Süden am Kalscheurer Weg. In der sogenannten Indianersiedlung leben rund 350 Menschen zusammen. Viele haben sich ihre Häuschen schwarz gebaut, mit Duldung des früheren Eigen­tümers, der Deutschen Bahn — aber auch mit dem Risiko, jederzeit geräumt zu werden. Es war eine Mischung aus köl­schem Proletariat, Hippies und anthroposophisch ange­hauch­ten Leuten, die sich hier zusammengefunden hatte, umgeben von wildem Gebüsch. »Vor 40 Jahren sah ich diesen Ort zum ersten Mal und dachte: Das hier ist dein Platz«, sagt Annette Kol­schews­ki. Die Lehrerin baute sich hier ihr Häuschen, zog ihre Kinder groß und spielt noch heute jedes Jahr mit ihrem Mann Theater in ihrem Innenhof.

»Wir konnten unser Leben und die Gemeinschaft hier selbst gestalten, wir haben Martinszüge für die ganze Siedlung veranstaltet, es war einfach toll«, sagt Kolschewksi. Im Jahr 2001 taten sich die Bewohner zur »Siedlergenossenschaft Kalscheurer Weg« zusammen und kauften das Gelän­­de. Nun verwalten sie sich selbst. Die Häuser gehören den jeweiligen Bewohnern, das Grundstück der Genossenschaft. »Wir haben ein großes Ziel erreicht. Aber seit die Sied­lung uns gehört, fing auch der ganze Stress an. Heute ist die Siedlung so gespalten wie Großbritannien«, sagt Annette Kolschewksi.

Da sind die Aushänge in der Siedlung: Wiederholt wurden dem Siedlungshausmeister die Autoreifen zerstochen, für die Ergreifung des Täters setzt er 200 Euro aus. Siedlungsgenossen zeigen sich gegenseitig an, wegen Veruntreuung von Geldern oder angeblicher Schwarzbauten; man grüßt sich nicht mehr. Was war passiert?

»Früher war man stolz darauf, dass Polizei und Gerichts­­barkeit hier nicht reinkamen. Man hat alles selbst geregelt.« Das hat Annette Kolschewski schon damals nicht gefallen, sie zeigte einen Nachbarn wegen Drogenhandels an, er habe offensiv und vor den Augen minderjähriger Kinder gedealt. »Das Schlimme ist aber, dass dieses Denken noch heute vorherrscht.« Nach wessen Regeln wird hier gespielt? Kolschewski und andere aus der Siedlung argwöhnen, der Vorstand der Genossenschaft habe eine Art Willkürherrschaft errichtet. Die Häuser der Siedler haben inzwischen an Wert gewonnen, auch durch aufwändige Renovierungen. Nun will der Vorstand darauf achten, dass die Preise beim Verkauf nicht in die Höhe schnellen, damit hier nach wie vor Geringverdiener eine Chance haben. Eigentlich doch ein ehrenwertes Anliegen? »Sicher, aber die Regeln kann er doch nicht einfach selbst festlegen. Er kann doch nicht einfach sinngemäß sagen: Sei mal sozial, verzichte doch mal auf die 100.000 Euro, die du da verbaut hast!«

Solche Eigentumsfragen können in der Neuerburgstraße 4 in Kalk nicht zu Konflikten führen. Am Frühstückstisch herrscht Eintracht, und auch vom Trubel der nahe gelegenen Kalker Hauptstraße ist selbst bei weit geöffneter Terrassentür nichts zu hören. »Wahnsinn, wie ruhig es hier ist, oder?«, sagt Christian, blonde Haare, Drei-Tage-Bart, und stellt Honig und Marmelade auf den Holztisch in der Wohn­küche. Seit sieben Jahren leben sie in dem hellen Reihenhaus mit Garage, kleinem Garten und Dachterrasse, sechs Menschen — in zwischenzeitlich wechselnder Besetzung.

Gefunden haben sie das Haus per Internet-Annonce, mit der sie bereits lange nach einer passenden Immobilie gesucht hatten. Als der Hausbesitzer sich meldete, waren die neun Reihenhäuser, die sich nur durch ihre Fassadenfarben unterscheiden, gerade fertig geworden. Im unteren Stockwerk liegt die geräumige Wohnküche mit Terrasse, oben sind die Zimmer der Mitbewohner. »Wir teilen hier mehr als ein Zuhause«, sagt Christian. Gemeinsam enga­gie­ren sie sich im Kalker Gartenprojekt »Pflanzstelle«, das nur ein paar Schritte entfernt liegt, oder sie machen gemeinsame Unternehmungen.

Doch vor rund einem Jahr kündigte der Vermieter an, das Haus verkaufen zu wollen. Schon nach den ersten Besuchen von Kaufinteressenten in der Neuerburg, wie die Bewohner ihr Haus nennen, sei klar gewesen: Sollte die Immobilie den Besitzer wechseln, würden sie hier nicht länger wohnen können, erzählt Christian. »Dann ist die Idee, selbst zu kaufen, langsam bei uns gewachsen.« Sie, alle um die dreißig und ohne große Ersparnisse, als Hauskäufer? Mit dem »Mietshäusersyndikat«, einer Beteiligungsgesellschaft für den gemeinschaftlichen Erwerb von Häusern, tat sich diese Möglichkeit plötzlich auf. Seit Juli ist die Neuerburg dort nun als Projekt aufgenommen — und die Kaufverhandlungen mit dem derzeitigen Besitzer sind abgeschlossen. »Wir finanzieren den Hauskauf zu mehr als 50 Prozent über Direktkredite von Verwandten, Freunden oder Menschen, die unser Projekt gut finden«, sagt Christian. Über den Rest nimmt eine eigens vom Wohnprojekt gegründete GmbH einen Bankkredit auf.

Mehr als 130 Projekten hat das Mietshäusersyndikat schon zum Kauf verholfen — ohne eigenes Geld in die Projekte zu investieren. Der Verbund, der Anfang der 90er Jahre in der Hausbesetzer-Szene in Freiburg gegründet wurde, fungiert als Berater und Beteiligungsgesellschaft. Kauft man über das Syndikat eine Immobilie, geht sie in das Eigentum der jeweiligen GmbH über, in der der jeweilige Hausverein sowie das Syndikat als Gesellschafter vertreten sind. Mit monatlichen Mieten werden die Kredite getilgt. Die Immobilie wird so dem freien Markt entzogen: Zwar entscheiden die Menschen, die darin leben, wie hoch die Miete ist, wer dort einzieht und ob und wie umgebaut oder saniert wird. Doch in Sachen Weiterverkauf hat das Syndikat ein Veto-Recht. Noch in diesem Jahr, hoffen die Bewohner der Neuerburg, soll der Hauskauf über die Bühne gehen. »Wir beschäftigen uns mit Dingen, die uns völlig neu sind«, erzählt Jana. Finanzierungspläne ausarbeiten, Kreditangebote bei der Bank einholen, hinzu kommen Versammlungen und Arbeitsgruppen. Seit Neustem macht die Hausgemeinschaft auch Öffentlichkeitsarbeit und veranstaltet Info-Abende zum Syndikatsmodell in ihrem Wohnzimmer.

Es hilft zu wissen, wen man anschnorrt

Geholfen hat ihnen auch eine Hausgemeinschaft aus Ehrenfeld. »Drei Lessi Drei« in der Lessingstraße ist schon 2007 dem Mietshäusersyndikat beigetreten. In dem Gründerzeithaus wohnen sechs Menschen im Alter von 21 bis 54 Jahren auf 180 Quadratmetern. »Wir gucken aufeinander, aber jeder lebt selbstverantwortlich, wie in einer normalen WG halt«, sagt Ruth Spätling, die zur Gründungs­gruppe gehört. Sie will aber auf keinen Fall »eine Homestory vom Zusammenleben« liefern, sie will einzig und allein das Modell bekannter machen: »Wir entziehen die Häuser dem Markt, darum muss es doch gehen!« Der Hype um gemeinschaftliches Wohnen, die Baugruppen und ihr Nachbarschaftsgedanke — das sei ja alles schön und gut. »Aber es muss doch auch Modelle für Leute geben, die nicht geerbt haben, die keine Kohle haben«, sagt Ruth Spätling. Letztlich sei das eine Klassenfrage. »Um ins Mietshäusersyndikat einzusteigen, musst du kein Geld haben, es ist nur hilfreich zu wissen, wen man anschnorren kann.« Und dann müsse man auch die Bereitschaft mitbringen, sich um bestimmte Dinge zu kümmern — die Buchhaltung, das Renovieren. Ihnen drohe zwar keine Luxussanierung, dafür müssten sie sich nun aber auch um alles selbst kümmern. Wenn die Fenster undicht sind, ist da kein Vermieter, den sie anrufen können. Und wenn‘s drinnen zieht, hält das der eine kaum aus, während es der anderen gar nicht erst auffällt. Wie einigt man sich darüber, was wann getan werden muss?

»Irgendwann ist der Leidensdruck groß genug«, sagt Ruth Spätling. Sie haben ihre Kredite direkt zu Beginn noch einmal erhöht, um neue Fenster und eine Heizung einzubau­en. Bald ist die Küche dran; der Dielenboden ist kaputt, und an der Wand liegen die Backsteine teilweise frei. »Das stammt aber aus einer Zeit, in der das noch nicht im Trend lag«, sagt Spätling und lacht.

All das steht Minge Onkel in Ehrenfeld noch bevor. Erst mal muss gebaut werden, Mitte 2021 will die Gruppe aus Ehrenfeld einziehen. Matthias Knopp geht noch mal nah an den Bauzaun heran, um bessere Fotos zu schießen. Das Piepen hat aufgehört.