Hofleben in der Stadt: Hausbesetzung des SSK in Ehrenfeld 1977

Radikal kommunikativ

Die Sozialistische Selbsthilfe in Köln und Mülheim feiert ihren fünfzigsten Geburtstag. Am Anfang kümmerte sie sich um die Menschen, die niemand interessierten. Heute ist sie aus der Stadtpolitik nicht mehr wegzudenken

Fünfzig Jahre Sozialistische Selbsthilfe in Köln und Mülheim, ein halbes Jahrhundert kollektives Bauen, Klotzen, Malochen. Als 1969 der Verein »Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln« gegründet wurde, kam Henriette Reker gerade in die Pubertät, der Vorläufer des Internets wurde aufgebaut und in den Kölner Jugendheimen und Psychiatrien herrschten rigide Zustände.

Martin Stankowski kennt als Stadthistoriker die Ge­­schichte des SSK (interessanterweise mit männlichem Artikel versehen) sehr genau. Der Historiker ist »Kämpfer der ersten Stunde« und sagt: »Es ging um Trebegänger, weggelaufene Jugendliche aus Heimen wie dem Don-Bosco-­Heim am Barbarossaplatz.« Dort arbeitete oft unqualifizier­tes Personal, wie etwa der ehemalige Gefängnis-Aufseher Konrad Müller. Als herauskam, dass er Jugendliche sexuell missbraucht hatte, wurde er 1969 beurlaubt, jedoch nicht weiter zur Rechenschaft gezogen. »Schläger, Säufer und Sadisten leiten ein Kölner Heim«, titelte die selbstorganisierte Zeitung Ana & Bela. Stankowski zeigt einen Nachdruck der Ausgabe vom Dezember 1969 und erzählt, der SSK sei damals gegründet worden, um den Zuständen in den Heimen etwas entgegenzusetzen. Im SSK organisierten sich ehemalige Heimjugendliche mit Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die darin eine Möglichkeit sahen, ihre politische Theorie aus der Universität in die Stadt zu tragen. Sie stellten Notunterkünfte bereit und halfen aktiv mit, aus den Heimen auszubrechen. Dafür brachen sie auch schon mal die Gitterstäbe vor den Fenstern auf. Außerdem organisierten sie politische Aktionen wie etwa Hausbesetzungen. Die Jugendlichen sollten selbstbestimmt leben. »Um den Jugendlichen eine Unterkunft zu beschaffen, besetzte der SSK in der Glad­bacher Straße ein paar große Häuser, die der Gothaer Ver­sicherung gehörten«, erzählt Martin Stankowski mit sichtlicher Freude. »Die wurden dann geräumt, und die Gothaer ließ Türen und Fenster zumauern«, erzählt er. »Die Leute vom SSK sind daraufhin nachts zum Bürogebäude der Gothaer gefahren und haben deren Haupteingang zugemauert.«

Ein anderer Schwerpunkt des SSK war die Arbeit mit Patienten in der Psychiatrie, etwa in der LVR-Klinik in Brauweiler. Dort war es zu Missbrauch, Misshandlung und 1978 sogar zu einem Todesfall gekommen: Marion M. starb dort, weil man ihr eine Überdosis Beruhigungsmittel verabreichte. Erst durch die Recherchen des SSK kam es zu einer Anklage gegen den alkoholsüchtigen Anstaltsleiter Fritz Stockhausen und zur Schließung der Klinik. Der SSK machte zudem auf die NS-Vergangenheit von Udo Klaus aufmerksam, der von 1954 bis 1975 Landesdirektor des LVR war. Er hatte im besetzten Schlesien die Deportation der jüdischen Bevölkerung mitorganisiert.

Die Stadt Köln bewilligte dem SSK schließlich finan­zielle Mittel für die Arbeit mit obdachlosen Jugendlichen — auch weil sie kein eigenes Angebot auf die Beine stellen konnte. Der SSK wurde daraufhin eine Anlaufstelle für Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet. Dies führte 1974 zum Eklat mit der Stadt. Danach benannte sich der Verein in »Sozialistische Selbsthilfe Köln« um, behielt so sein Kürzel SSK, finanzierte sich fortan aber komplett selbst. Aus dem geförderten Verein wurde ein Kollektiv­betrieb, der sich vor allem mit Entrümpelungen von Wohnungen finanzierte. Wenn dabei gut erhaltene Möbel oder Raritäten entdeckt wurden, verkaufte man sie weiter. Das ist bis heute so geblieben.

Im Laufe der Jahre entwickelten sich unterschiedliche Vorstellungen des gemeinschaftlichen Lebens. So kam es 1979 zur Abspaltung, aus der die Sozialistische Selbsthilfe ­Mülheim (SSM) hervorging. Es war die Zeit der großen Hausbesetzungen in Köln, an denen sich auch der SSK beteiligte. Anfang der 80er Jahre lebten in den sechs Kölner SSK-Gruppen mehr als 120 Menschen zusammen.

Heute existieren noch drei Gruppen, in Ehrenfeld, am Salierring und in Mülheim. Es sind mittlerweile eigenständige Vereine, die ohne öffentliche Zuschüsse auskommen und die in Häusern leben, die ihnen auch gehören. Der SSK in Ehrenfeld bekam 1975 ein Haus vom Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll geschenkt. Der SSK Salierring konnte das Haus, in dem die Gruppe seit Jahrzehnten wohnt und arbeitet, im Jahr 2004 kaufen.

Von der Gegenwart der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim kann Reentje Streuter berichten. Der heutige Jura-Student ist sogar im SSM aufgewachsen, sein Vater Rainer Kippe wohnt bis heute dort. Es ist das Gelände der ehemaligen Schnapsfabrik Esser an der Düsseldorfer Straße am Rheinufer. Dort steht ein von Efeu über­wuchertes Häuschen samt kleinem Gemüsegarten. Gegen­über liegt ein großes Backsteingebäude mit Second-Hand-Laden, Seminarräumen und Wohnungen.

»Es war schon ziemlich gemeinschaftlich, es haben viele Kinder hier gewohnt«, erinnert sich Reentje Streuter beim Spaziergang. »Hinter der Halle stand ein Gelände, das lange der Natur überlassen war«, erzählt er. »Das war unser Urwald. Da konnten wir machen, was wir wollen.« Im Nachhinein sei er froh, im SSM aufgewachsen zu sein.
»Ich fand es super, so viel Zeit mit meinem Vater verbringen zu können, der ja auch hier gearbeitet hat. Andere  Kinder haben dann vielleicht ein Elternteil immer nur abends gesehen.«

Als Kind habe er hier auch viele Erwachsene getroffen, die andere Eltern vielleicht lieber von ihren Kinder fernhalten würden, sagt Streuter. »Darunter waren ehemalige Drogenabhängige oder Leute, die bei uns Sozialstunden gemacht haben. Aber als Kind hat man noch nicht so viele Vorurteile, das hat mir viel gebracht.«

Auf dem Gelände ist viel los. Der Laster wird be- und entladen, alte Einrichtungsgegenstände werden sortiert, die Frau hinter dem Tresen grüßt. Streuter arbeitet hier jeden Montag bei der kostenlosen Sozialberatung des SSM. »Einmal kam eine alte Frau und meinte, das Amt bewillige ihr keinen Rollator«, sagt er. »Da haben wir dann einfach einen aus dem Lager geholt, und das war’s.«

Geschichten wie diese zeigen, dass die Sozialistische Selbsthilfe helfen kann, wenn die Sozialsysteme nicht greifen. Das hat der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim große Anerkennung eingebracht, auch bei den Parteien in der Kölner Lokalpo­litik, sogar bei der CDU. Denn der SSM hat auch bei konfrontativen politischen Aktionen immer das Ge­­spräch gesucht. Ein Argument des SSM ist dabei, dass die Stadt ein Interesse daran hat, dass der Verein existiert. Dort leben und arbeiten zwischen 20 und 30 Menschen, von denen viele ansonsten auf Sozialleistungen angewiesen wären.

Mit den Jahren haben sich die Schwerpunkte in der Arbeit der Sozialistischen Selbsthilfe verschoben. Die Zustände in den Kinderheimen und Psychiatrien haben sich verbessert, bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit und Wohnungsnot sind die Vereine jedoch weiter stark engagiert. Im Frühjahr haben Aktivist*innen des SSM die »Frauen der 1006« unterstützt, die schon mehrere Häuser im Stadtgebiet besetzt haben, um auf Obdachlosigkeit von Senior*innen aufmerksam zu machen. Sie engagieren sich in der Stadtteilpolitik und unterstützen Geflüch­tete. Und weil die Gründergeneration so langsam das Rentenalter erreicht hat, sind mittlerweile auch viele Jüngere dabei.

Lieber SSK, liebe SSM, alles Gute zum Geburtstag!

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