Spiegelungen im Herbst: Wolfgang Voigt

Bassdrumrummel

Wolfgang Voigt ist Techno Godfather, Mr. Kompakt — und Kölns erster »Holger-Czukay-Preisträger«. Jetzt hat er sein Gesamtwerk der 90er Jahre neu veröffentlicht: 303 Tracks

 

Es kommt nicht oft vor, dass einem ein Musiker 25 Jahre nach dem ersten Hören noch immer so viel bedeu­tet wie dereinst. Oder, wie im Fall von Wolfgang Voigt, sogar noch mehr, eben da die Strahlkraft des Werks mit jeder Veröffentlichung zugenommen hat. Ich bin nicht alleine mit dieser Einschätzung, das sieht auch die Stadt Köln so, ­die Voigt Ende Oktober im sensibel renovierten Gebäude 9 mit dem erstmals vergebenen »Holger ­Czukay Preis für Popmusik« aus­gezeichnet hat, überreicht von Oberbürgermeisterin Henriette Reker und nickend goutiert von seinen drei Kompakt-Kompagnons Michael Mayer, Jürgen Paape und Reinhard Voigt.

Aber Voigt ist schon wieder einen Schritt weiter und lenkt das Interesse auf das Megaprojekt »EARQUAKE — Wolfgang Voigt 1991–1999«, 303 Tracks erhältlich jeweils als singulärer Download oder auf einem gewohn edel präsentierten Stick mit Booklet. Die 90er — das war nicht nur die Deka­de von Voigts Comingout als Elektronischer Musi­ker (nach einem Jahrzehnt mit an britischer Popmusik geschulten Bands), sondern auch jene, in der das Techno-Genre als solches sich erfand und aushärtete. Oder wie Voigt es an einem wunderschönen Spätherbstnachmittag im Speisesaal des Kompakt Headquarters ausdrückt: »Ich habe den gesamten Bassdrumrummel von Anfang an mitgemacht.«

Lange Zeit hat sich Voigt dem Rückblick auf jene frühen Technojahre verwehrt, obwohl nicht we­ni­ge Kumpels (ein Wort, das er sehr gerne benutzt) sich immer wieder Mike Ink und Acid Spaß von ihm ge­wünscht haben. Nun aber passt es für ihn: »Weil der richtige Abstand da ist! Weil es sich jetzt gut anfühlt einen neuen retro-freien Blick auf das komplexe Schaffen dieser Zeit als Ganzes zu werfen.« Beim Surfen durch die »persönlichen Historie« habe ihn eine regelrechte Euphorie erfasst: »Die Lebens- und Spielfreude dieser Zeit, das Wilde, das Unbedachte und Unerschrockene, das Anarchische, diese gut gelaunte Haupt­sache-Egal-Haltung hat mich plötzlich wieder sehr — und irgendwie neu angesprochen.«

Man hört Wolfgang Voigt gerne zu, wenn er den »Geist in der Flasche dieser Zeit« freilässt: »Es war eine absolute Befreiung. Damals fehlte der Underground, die Bewegung, das Wilde, das Rotzige in der Musik — und dann kam Techno und hat das hergestellt.« Erinnerungen schwirren durch den Raum an lange Nächte in dunklen Acidclubs, an Nebelwände und Strobogewitter, an nicht etike­ttierte Platten und namenlose DJs. Gerade die Anonymität, das im Dun­keln Verborgene sei es gewesen, merkt Voigt an, was diese Musik damals so frei gemacht habe: »Man war nicht schöner und besser als die anderen — aber eben auch nicht schlechter. Es war sehr international und sehr unhierarchisch — der Spirit und die Reflektion von Musik war gut und frei.«

Und mitten drin in dieser ersten Techno-Welle Wolfgang Voigt und sein alter Ego Mike Ink, der »mit seiner Idee von Acid« eine Hit-12-Inch nach der nächsten vorlegte — in manchen Wochen bis zu drei Stück. »Mit Techno ging eine radikale Demokratisierung einher«, ruft Voigt in Erinnerung. »Mit einfachen Maschinen, die man sich leisten konnte — 303, 909, Atari 1040 —, war man in der Lage Musik zu produzieren. Man ließ Platten selber pressen, gründete Labels, baute alternative Vertrie­bstrukturen auf.«

Die Produktivität ma­ni­festiert sich in der wahnwitzigen Zahl von 303 Tracks, die Voigt jetzt auf einem Stick versammelt und damals unter den Signets Mike Ink, Love Inc, Wassermann, M:I:5 oder Studio 1 veröffentlichte — oder auch nicht. Denn immerhin 75 bis dato unveröffentlichte Stücke präsentiert Voigt auf »EARQUAKE«, strikt chronologisch geordnet. Er merkt süffisant an: »Das sind Stücke, die hat noch nie ein Mensch gehört, teilweise nicht mal ich selbst, da ich mich nicht erinnern konnte, dass ich sie gemacht habe.« Es ist generell erfrischend, wie unprätentiös Voigt über seine Musik spricht: »Einige meiner 90er Jahre Hits sind klanglich objektiv echter Irrsinn. Aber der Underground macht’s möglich.«

Die chronlogische Ordnung war ihm sehr wichtig. Er spricht von einer Geste — als »Kom­mentar auf den Wert von Mu­sik und dessen Konsum in der Gegenwart«. Die Idee ist subversiv: »Du kannst heute via Streaming-Flatrates die gesamte Musik des Planeten auf deinem Telefon hören, wozu du 3000 Leben bräuchtest. Ich wollte mit meiner 303-Tracks-auf-einen-Schlag-Offensive diese Realität kommentieren.«

Wenn man sich durch die 303 Track hört, fällt sofort auf, wie wild und frei Wolfgang Voigt als Produzent agierte. Statt eine Identität zu etablieren, ging es gerade um das Gegenteil: Kaum wurden Projekte wie Love Inc. und Mike Ink zu populär, verlor er das Interesse an ihnen. Seine Rolle innerhalb des Technouniversums definiert er deswegen als die eines Enfant Terrible: »Es gibt den klaren Techno, Techno als Techno — da bin ich eher eine Randerscheinung. Ich bin zwar durch die Mitte gekommen, aber ich habe mich aus meiner Popperspektive für nicht hermetischen Techno interessiert. Es gab zwar bei mir engere Konzepte, ich hatte aber eben fünf andere daneben.«

Bleiben nur noch eine offene Frage: Was bedeutet ihm der Holger-Czukay-Preis? »Der Preis ist dafür, dass ich mich um die Stadt in der künstlerischen Arbeit verdient gemacht habe. Es geht um den Sound of Cologne — das kann man also annehmen.«

Tonträger »EARQUAKE — Wolfgang Voigt 1991–1999« ist auf Kompakt erschienen.